Eine kurze Geschichte der Menschheit

Kapitel 10: Rechnen, Schreiben, Lesen

Die ältesten bekannten größeren Siedlungen gehen bis in das Jahr 7000 v.Chr. zurück, und „schriftliche“ Zeugnisse liegen seit dem Jahr 3000 v.Chr. aus Ägypten vor, andere etwas später aus Mesopotamien. Mit Eigentum und dessen Verwaltung, verschiedenen Berufen und dem Handel der Produkte und größer werdender Bevölkerungsdichtw ist es irgendwo in diesem Zeitfenster unmöglich geworden, alles nur mit dem Gedächtnis nachzuhalten. Lokale Herrscher mussten Abgaben und Dienstleistungen ihrer Untertanen kontrollieren, Buch über Vorräte und Waffen für Notzeiten führen und nach irgendwelchen Kriterien auch Besitzstreitigkeiten, die schnell an der Tagesordnung gewesen sein dürften, zu lösen. Der aufkommende Fernhandel bedurfte ebenfalls einer Buchführung: wer hat was bestellt und wieviel dafür bezahlt? Wenn ein Händler nach einem halben Jahr mit der Ware wiederkam, sollte ja alles wie vereinbart abgewickelt werden, und auch der Händler musste irgendwie mit einkalkulieren, dass lokale Herrscher unterwegs Zoll von seinen Waren einzogen und im Gegenzug die Wege von Räubergesindel frei hielten.

Was mindestens notwendig war, war

  • ein Zahlen/Zählsystem (Strichlisten),
  • ein Zeichensystem für die Beteiligten (Siegel),
  • ein Zeichensystem für die bestellte Ware samt der gewünschten die Eigenschaften und
  • ein Kalender, um sich auf Termine zu einigen.

Letzteres war schon zuvor notwendig geworden, um die korrekten Zeitpunkte für Aussaat und Ernte in der Landwirtschaft festzulegen. Die Astronomie ist folglich eine sehr alte Wissenschaft und hat sich in mehreren Bauwerken verewigt und erfordert zudem ebenfalls Aufzeichnungsmechanismen, um über Jahre aus den Beobachtungen die gewünschten Schlüsse ziehen zu können.  Komplexere Bauwerke verlangten schließlich auch eine Art Mathematik, mit der Mengen berechnet werden konnten, sowie eine Planung, die dafür sorgte, dass die Räume die richtige Größe hatten und nicht zum Schluss eine Tür vergessen wurde.

Eine ganze Reihe nicht ganz einfacher Techniken mussten folglich in relativ kurzer Zeit entwickelt werden, wenn es mit der Zivilisation etwas werden sollte. In Ägypten und Mesopotamien tauchten viele Techniken schlagartig und in Vollendung auf. In Ägypten war beispielsweise alles, von der Schrift bis zur Messtechnik, beim Bau der ersten Pyramide vorhanden, zuvor war jedoch kaum eine Spur davon zu finden, was angesichts der Langsamkeit anderer Entwicklungen erstaunt. Andererseits: macht man sich klar, dass der Transistor als Voraussetzung für unser vollelektronisches Leben auch erst um 1950 das Licht der Welt erblickt hat, ist eine explosive Entwicklung aus bescheidenen Anfängen in wenigen Jahrzehnten ohne weiteres möglich. Warum nicht auch damals?

Jede untersuchbare Kultur scheint bei der Entwicklung eigene Wege gegangen zu sein, mit unterschiedlichem Ergebnissen. Bei Zahlensystemen beispielsweise ist auch das Rechnen wichtig, und es wurden ausgeklügelte Kalkulationssysteme erdacht, die sich oft mit Hilfe der Finger durchführen ließen und auf das Schriftsystem übertragen wurden. Sehr elegant lassen sich Rechnungen mit Hilfe der Null als eigener Ziffer im Dezimalsystem durchführen, wobei die Null von den Indern (nicht den Moslems, das ist eine verbreitete Fehlinformation) erdacht wurde und die Grundlage unseres heutigen Systems ist. Aber die Eleganz ist eben auch unsere heutige Gewohnheit. Dass auch das römische Ziffernsystem ein systematisches Rechnen erlaubt, sieht man der Aufgabe  XII : II = VI nicht an, und auch merkwürdige Teilungen wie 1 -> 20 -> 240 anstelle von 1 -> 10 -> 100 sind auf die notwendigen Rechentechniken zurück zu führen.

Bei der Bezeichnung von Dingen bieten sich natürlich zunächst Symbole an, wie in ägyptischen Hieroglyphen oder chinesischen Schriftzeichen. Der Vorteil solcher Systeme ist die weitgehende Unabhängigkeit vom Sprecher – ein Haus ist in Farsi genauso ein Haus wie in Japanisch – Nachteile das Problem, komplexere Sachverhalte auszudrücken sowie die große notwendige Zahl an Schriftzeichen. Silbenschriften und Lautschriften lassen mehr Möglichkeiten bei geringerem Zeichensatz, da sich auch komplexere sprachliche Konstrukte umsetzen lassen, sind aber nur noch dem Sprecher der Sprache zugänglich. Eine der konsequentesten Umsetzung der Silbenschrift scheint das Koreanische zu sein, dass es einem Sprachunkundigen erlaubt, Texte so vorzulesen, dass jeder Koreaner sie versteht (nicht aber unbedingt auch der Vorlesende). Noch weiter reduziert und universeller sind Buchstaben oder Einzellautschriften wie unser Alphabet, wobei aus der Schrift aber oft nicht hervorgeht, wie etwas ausgesprochen wird: unser Wort Chor besitzt etwa die Aussprache [Koor], das englische Pendant choir etwa [Kwai_ah].

Die Verschiedenartigkeit der Zahlen- und Schriftsysteme zeigt, dass sie jeweils lokal entstanden sein müssen. Das drängt die Ursprünge in eine Zeit zurück, in der Kontakte untereinander durch intensiven Handel oder kriegerische Auseinandersetzungen noch nicht an der Tagesordnung waren. Wie an anderen kulturellen Errungenschaften wurde auch an den Zahlen- und Schriftsystemen zunächst ziemlich zäh festgehalten.

Während in Ägypten und Mesopotamien munter gerechnet und getextet wurde, liegen aus Nordwesteuropa und Innerasien keine entsprechenden Hinterlassenschaften vor. Archäologische Funde zeigen jedoch, dass es auch hier lokale Fürsten gegeben hat und intensiver Fernhandel getrieben wurde: baltischer Bernstein findet sich an den entgegen gesetzten Enden des Gebietes, Gold aus den südlichen Ländern ist verarbeitet oder unverarbeitet auch im hohen Norden zu finden, mit Feuerstein aus belgischen Bergwerken wurden weite Teile Europas versorgt, Salz kam aus verschiedenen Bergwerken am Nordrand der Alpen und in Niederdeutschland, Erze bzw. Halbzeuge aus verschiedenen Regionen bis hin nach Spanien und Irland, und nachdem Salz- und Metallerzeugung die lokalen Wälder erschöpft hatten (die Lüneburger Heide ist durch Abholzung der Wälder für das Salzsieden entstanden), kam ein ausgedehnter Holzhandel hinzu. Der Detailhandel umfasste Werkzeuge, Waffen, Schmuck und anderes. Bei der Errichtung von Heiligtümern wurden Lasten bis 15 to und mehr bewegt (Stonehenge, Bretagne), anderswo wurden ähnliche Stätten aus Holz errichtet, wie kürzlich festgestellt wurde, d.h. die Kultur war im gesamten Gebiet erstaunlich ähnlich ausgerichtet und technisch überall auf gleichem Niveau.

Schreiben, Rechnen und Lesen müssen zwangsweise auch in diesem riesigen Gebiet gut bekannt gewesen sein, und die Beschränkung der Archäologen auf den ägyptisch-mesopotamischen Raum liegt daran, dass dort Dokumente auch auf Stein und Ton verfasst wurden, Materialien, die die Zeit überdauern können. Aber auch von Ägypten ist bekannt, dass dort bereits in der Frühzeit andere Materialien verwendet wurden: Schreiber sind in sitzender Haltung mit einem Griffel dargestellt und nicht etwa wie in Asterix-Heften mit Hammer und Meißel vor einer Marmortafel. Als Schriftträger in Frage kommen beispielsweise Baumrinde, Papyros, Tierhäute (Pergament), farbige oder speziell geknotete Schnüre und vieles Weitere, dass die Zeiten eben nicht überdauert. Wenn in der Geschichte „geheimnisvolle Völker aus dem Nichts“ auftauchen und andere Zivilisationen überrennen, heißt das nur, dass in diesen Völkern Aufzeichnungen auf vergänglichen Materialien angefertigt wurden, nicht, dass sie so etwas nicht kannten und für sich perfektioniert hatten, und das „schlagartige Auftauchen“ der Schrift in Ägypten und anderswo bedeutet auch nicht mehr, als dass aus bestimmten Gründen eben zu dieser Zeit Stein oder Ton für einige Dokumente verwendet wurde, sagt aber nicht aus, wie lange Schrift und Zahl bereits zuvor bekannt und verwendet wurden. Die etwas einseitige Darstellung der Archäologie liegt wieder einmal daran, dass man sich scheut, plausible Schlussfolgerungen ohne Belege auf andere Gebiete zu übertragen.

Die Fertigkeiten des Schreibens und Lesens beschränkten sich mit einiger Sicherheit weitgehend auf bestimmte Berufe. Herrscher und Priesterschaft haben Kanzleien dafür unterhalten, für Kaufleute standen anscheinend Notariate zur Verfügung, die auch die Akten von Transaktionen verwalteten. Bekannt hierfür sind insbesondere die Keilschriftfunde auf Tontäfelchen in Mesopotamien oder Steinstelen, auf denen Verfügungen und Gesetze der Herrscher veröffentlicht wurden. Beide Materialien sind vermutlich eher aus praktischen Gründen verwendet worden. Tontafeln eignen sich recht gut, um im Gewühl eines Handelsplatzes schnelle Aufzeichnungen zu machen, sind aber weniger gut geeignet, als Dokumente über größere Entfernungen transportiert zu werden. Für größere Handelsgeschäfte war sicher eine umfangreichere Korrespondenz notwendig, die aus praktischen Gründen eher auf vergänglichen Materialien geführt wird.

Bei einem Fernhandel ebenfalls schnell notwendig werden warenunabhängige  Verrechnungssysteme, d.h. Geld. Der Tauschhandel hat seine Grenzen, wenn er sich über hunderte von Kilometern erstreckt. Um als Geld geeignet zu sein muss ein Kandidat eigentlich nur ein paar Bedingungen erfüllt werden:

  1. Er muss (einigermaßen) haltbar sein,
  2. er darf nur schwer fälschbar sein,
  3. er muss relativ selten sein,
  4. er muss relativ nutzlos sein (wobei diese Bedingung nicht immer zutreffen muss).

Ausgehend von einem reinen Tauschhandel dürfte es sich bald als vorteilhaft erwiesen haben, verschiedene Waren über Metallbarren (Kupfer, Eisen, Silber, Gold) gegeneinander zu verrechnen, die diese Eigenschaften erfüllen. Ein Beispiel dafür ist Hacksilber, das im europäischen Norden (allerdings erst in späteren Zeiten als den hier betrachteten) als Geld verwendet wurde. Es hat seinen Namen davon, dass von einem Barren der Gegenwert der Ware abgehackt wurde bzw. verschiedene Hackstücke wiederum zum Gesamtgewicht addiert wurden. Zur korrekten Abwicklung sind dann allerdings auch halbwegs gut definierte Maßsysteme (Gewicht, Längen, Raummaße) notwendig, und die Händler mussten wiederum die verschiedenen Maßsysteme gegeneinander verrechnen können.

Bedingung 3 ist allerdings schnell verletzt, besonders wenn auch Bedingung 4 nicht zutrifft. Die Wertdifferenz zwischen Kupfer/Bronze und Silber/Gold wurde schnell zu groß, um noch praktikabel zu sein, aber auch Silber für geringwertige Waren zu wertvoll. Die Verbesserung des Geldsystems erfolgte in zwei Schritten: geprägte Münzen sollten ein bestimmtes Gewicht und eine bestimmte Qualität garantieren, ohne dauernd Messen und Prüfen zu müssen. Später repräsentierten Kupfer/Bronze-Münzen aber auch einen höheren als den ihrem Gewicht entsprechenden Wert. Prägung und Garantien übernahmen die Herrscher.

Leihgeschäfte sind bereits aus den frühen Kulturen bekannt, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass mit dem Geld eine Art Bankenwesen nicht ebenfalls sehr früh entstanden ist. Einzelne Händler dürften kaum in der Lage gewesen sein, einen Fernhandel in dem Umfang zu betreiben, der nachgewiesen werden konnte, und auch Produktionsstätten gehen im Umfang oft über das hinaus, was einzelne bewältigen konnten. Für eine lohnende Metallproduktion musste beispielsweise ein Bergwerk zur Erzgewinnung aufgefahren werden, Hüttentechniker hatten die Öfen zu errichten und zu betreiben, was wiederum nur mit Hilfe von Holzfällern, Köhlern und später auch Flößern möglich war, und schließlich mussten die Produkte auch auf den Markt gebracht werden. Selbst in der Frühzeit dürfte dieses Geschäft schnell einen Umfang angenommen haben, der ohne irgendeine Art von Kapitalgesellschaft nicht zu erledigen war. Von diesem Punkt aus war es nur noch ein kleiner Schritt, dass Handelshäuser einander Kredit gewährten, wenn sie nicht sogar eigene Stützpunkte an verschiedenen Orten unterhielten. Statt mit etlichen Kilogramm Gold durch die Gegend zu ziehen konnten auch Anweisungen auf Handelshäuser vor Ort gezogen werden.

Aus der römischen Republik sind derartige Geschäfte bekannt, und die reine Logik erfordert, dass neben Rechnen, Schreiben und Lesen auch solche Geschäftspraktiken schon wesentlich früher existierten als die Archäologen und Geschichtsschreiber aus der Quellenlage entnehmen. Verwunderlich ist der Mangel an Zeugnissen nicht. Lediglich Herrscher verwendeten zur Selbstdarstellung oder aus religiösen Gründen Stein als dauerhaftes Material, und für sie bestand nun kein Grund, Details des Wirtschaftsgefüges darauf festzuhalten. Reiche Kaufleute wiederum ahmten wiederum die Herrscher mit kleineren Denkmälern nach oder vergruben Wertgegenstände, um sie vor Diebstahl zu schützen, woraus nun wiederum Archäologen geheimnisvolle Kulturen mit rätselhafter Kultur konstruieren, weil sie nichts weiter finden, und der Leser letztlich etwas verwirrt ist, wenn er nicht selbst über das Naheliegende nachdenkt.

 

zu Kapitel 1

zu Kapitel 11