Eine kurze Geschichte der Menschheit

Kapitel 4: der aufrechte Gang

Mensch und Schimpanse haben die gleichen Vorfahren. Das bedeutet aber auch, dass weder der Schimpanse noch der Mensch viel mit dem gemeinsamen Vorfahren zu tun haben muss. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Schimpanse am Modellvorfahren näher dran, weil der vermutlich wie der Schimpanse ein Waldbewohner war. Das muss aber nicht so sein. Alternativ könnte ein Steppenbewohner wieder in den Wald eingewandert sein, auch wenn das wenig wahrscheinlich ist. Das Problem ist, dass von den Vorfahren des Menschen als Steppenbewohner Fossilien vorliegen, während man bei Waldbewohnern meist vergebens danach sucht, weil dort die Bedingungen für Fossilbildung ungleich schlechter sind sind.

Trotz solcher Detailfragen entstammt der Mensch unbestreitbar einer Gruppe von Baumbewohnern, ebenso unbestreitbar hat er irgendwann dieses Habitat verlassen und ist in die Steppe gezogen, von wo er schließlich die gesamte auch nur irgendwie bewohnbare Erdoberfläche besiedelt hat – im Gegensatz zu seinen Gruppengenossen, die zwar auch weit herum gekommen sind, aber nicht ganz so weit und nicht ohne jeweils für einen Lebensraum spezialisierte Arten auszubilden.

In einem gewissen Rahmen können wir die damaligen Zustände sogar heute studieren: Vergleichbare Lebensräume wie die mutmaßlichen Vorfahren des Menschen besiedeln die Paviane. Auch sie haben eine größere Verbreitung als andere Affenarten und können als Indiz dafür herangezogen werden, dass Steppenbewohner sich besser in der Fläche verbreiten können als Waldbewohner. Paviane sind wie Menschen Allesfresser mit einer deutlichen Tendenz zur pflanzlichen Nahrung. Sie leben in größeren sozialen Gruppen. Ein einzelner Pavian ist relativ chancenlos gegenüber einer Raubkatze wie einem Leoparden, allerdings weiß der Leopard, dass er 20 oder mehr der Gesellen am Hals hat, wenn er sich mit einem anlegt, was selbst für den Leoparden relativ ungesund ist. Paviane bewegen sich auf allen Vieren, verfügen aber über ein beeindruckendes Raubtiergebiss mit mächtigen Eckzähnen, die geeignet sind, selbst stärkeren Gegner lebensgefährliche Wunden beizubringen. Die mächtigen Wehrgebisse sind beim Menschen nicht mehr vorhanden, ebenso die Körperbehaarung fehlt weitgehend. Gemeinsam ist beiden aber das Aufsetzen der Handflächen bei der Fortbewegung auf allen Vieren (Menschenaffen setzen gewöhnlich die Fingerknöchel und nicht die Handflächen auf). Der Pavian eignet sich daher ganz gut als rezentes Modell für die ersten Schritte auf dem Weg zum Menschen, und etwas überspitzt formuliert, ist er möglicherweise der Versuch der Meerkatzengruppe unter den Affen, das Erfolgsmodell der Menschenaffengruppe zu wiederholen.

Betrachten wir den Schimpansen: Er ist im Wald geblieben, auch anatomisch. Die Beine sind zu relativ kurz, die Arme lang und kräftig, die Wirbelsäule einseitig nach vorne gekrümmt, was ein aufrechtes Laufen behindert. Alles in allem ein hervorragender Kletterer, der auf allen Vieren auch auf dem Boden recht flink unterwegs sein kann (allerdings setzt er dabei die Fingerknöchel und nicht die Handflächen auf, s.o.). Auch bei ihm ist ein Wehrgebiss mit mächtigen Eckzähnen noch gut ausgebildet.

Nehmen wir den Schimpansen einmal als Blaupause (Gorilla und Orang-Utan sind ihm ja nicht unähnlich gebaut), dann sind beim Menschen die Beine kräftiger und länger geworden, ihre Normalhaltung ist gestreckt, die Arme sind verhältnismäßig kürzer mit rückentwickelter Muskulatur, die Wirbelsäule ist S-förmig gebogen, um aufrechtes Gehen und Stehen zu ermöglichen und das Wehrgebiss ist verschwunden. Babys vor und in der Lauflernphase erinnern aber noch stark an die Körperhaltung des Schimpansen, d.h. die eigentliche Streckung erfolgt erst in der Jugend (was aber nicht weiter verwundern sollte, denn irgendwie muss das Baby vor der Geburt ja auch in die Mutter hineinpassen).

Wie der Mensch ist der Schimpanse ein Allesfresser, der tierische Nahrung nicht verschmäht, sondern sogar regelmäßig Treibjagden auf andere Affenarten veranstaltet, um an Fleisch zu gelangen, wie neuere Forschungen ergeben haben. Damit stehen die beiden Arten isoliert zwischen den anderen (z.B. Gorilla), die strenge Pflanzenfresser sind. Auch anatomisch sind beide als Allesfresser ausgewiesen, da die Darmlänge gegenüber reinen Pflanzenfressern verkürzt und das Magenvolumen kleiner ist, jedoch bei weitem nicht die Verhältnisse reiner Fleischfresser erreicht. Die Entwicklung von Pflanzenfresser zum Gemischtkostverwerter hat wohl bereits sehr früh in der Evolution angesetzt, wenn Mensch und Schimpanse betroffen sind.

An der Stelle ist es notwendig, den Veganern einmal etwas entgegen zu setzen: das menschliche Verdauungssystem hat sich nämlich noch weiter von der vegetarischen Ernährung entfernt als das der Schimpansen. Problemlos verdaut werden Früchte, deren biologischer Sinn eben darin besteht, gefressen zu werden und damit nebenbei für die Verbreitung der Samen zu sorgen. Kleiner wird das direkt verdaubare Spektrum schon bei den Samen. Genauso übel sieht es bei Wurzeln aus, und grüne Blätter sind in den meisten Fällen für den Menschen als Rohkost unverdaulich. Mit der Rohkost zu überleben, die in ein Schimpansengehege geschüttet wird, hätte der Mensch bereits ein Problem. Verdaubar wird das Meiste erst durch Kochen, was die Zellstrukturen aufbricht und die sonst nicht zugänglichen Nährstoffe freilegt. Und selbst dann könnte der Mensch nur in wenigen Gebieten der Erde ohne schwere Mangelerkrankungen über die Runden kommen, würde er nur das Essen, was vor Ort verfügbar ist. Das heute gepriesene Vegetarier- oder Veganersystem funktioniert nur, weil die Nahrung gekocht und die einzelnen Bestandteil weltweit zusammen geflogen werden.

Anders sieht es mit tierischer Kost aus. Die ist voll umfänglich auch ungekocht verwertbar, und zwar stärker ausgeprägt als beim Schimpansen. Nun lässt sich an den Fossilien nicht ablesen, wann diese Entwicklung eingesetzt hat; zu Denken geben sollte sie einem trotzdem. Beim Übergang vom sicher fruchtreichen Wald in die artenärmere Steppe hätte man eigentlich erwarten sollen, dass die Verwertbarkeit von pflanzlicher Nahrung zunimmt. Jedoch ist das Gegenteil zu beobachten. Wieso dieser Zug zum Fleisch?

Verantwortlich für diese wenig veganerfreundliche Entwicklung ist das Gehirn. Es verbraucht bei vielen Tieren nur 3-5% der Gesamtenergie, die der Körper verbrennt, bei den im Vergleich zu anderen Tieren schon recht intelligenten Menschenaffen erreicht der Anteil bereits 8-10% und beim Menschen liegt der Bedarf alleine dieses Körperteils bei 20-25%, obwohl die Masse nur ca. 2% ausmacht. Mit rein pflanzlicher Nahrung lässt sich der Bedarf nur mit Hilfe zuckerreicher Früchte retten, nicht aber mit sonstiger pflanzlicher Kost, die nur mit Hilfe von Mikroorganismen oder durch Kochen zugänglich werden. Unsere Intelligenz hat eben ihren Preis, und wer jetzt den Schluss zieht, dass Veganer den Pegel herunter fahren und daher weniger intelligent sind, muss das selbst verantworten. Die Evolution hat die Verbrauchsdaten des Gehirns im Laufe der Zeit auf diese Werte hochgefahren, und da wohl kaum davon auszugehen ist, dass Kochen zu einer der sehr frühen Techniken der menschlichen Vorgänger gehört hat, ist anzunehmen, dass tierische Kost, die problemlos die Energie liefern kann, während der ganzen Entwicklungsgeschichte in zunehmendem Maße verwertet wurde.

Stellen wir uns nun dem Bild der ersten Hominiden. Laut gängiger Theorie, die im Grunde das Bild, das der Zivilisationsmensch heute abgibt, in die Vergangenheit portiert, ein recht schwächliches Wesen, ein langsamer Läufer, ein schlechter Kletterer, ein mäßiger Weitspringer und Schwimmer usw, das von stärkeren Arten von den Bäumen in die Savanne gedrängt wurde, immer auf der Hut vor Jägern, denen er nur durch schnelle Flucht entkommen konnte. Nach dieser Theorie ist es vorteilhaft, eine größere Übersicht zu erhalten, um Gefahren schneller zu erkennen, weshalb die Vorfahren sich langsam auf die Hinterbeine stellten, um ihre Umgebung besser beobachten zu können, und gleichzeitig Beinmuskeln entwickelten, die zumindest eine schnelle Flucht zum nächsten Baum ermöglichten. Die Ernährung war weitgehend vegetarisch; tierische Kost kam erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzu. So weit das, was oft zu lesen ist. Ist das schlüssig? Eigentlich nicht, denn wenn der frühe Vorfahre wirklich so ein Schlappschwanz gewesen wäre, hätte er es vermutlich vorgezogen, auszusterben anstatt sich zur heutigen Plage weiter zu entwickeln.

Räumen wir ein wenig auf. Der menschliche Körper ist eine ziemlich universelle Konstruktion und alles andere als schlecht. Die Fehleinschätzung beruht eher darauf, dass jeweils mit Spezialisten verglichen wird. Die Sprintqualitäten von ca. 36 km/h sind in der Tat wenig beeindruckend; die meisten Vierfüßer bringen es auf deutlich mehr. Beeindruckend ist der Mensch dagegen auf der Langstrecke: er ist durchaus in der Lage, schnelle Gazellen zu verfolgen, bis diese vor Erschöpfung zusammenbrechen, und konkurriert hier mit den Hundeartigen. Die Kletterleistungen von Affen werden zwar nicht erreicht, sind aber (beispielsweise bei Parkourläufern, Turnern oder Kletterspezialisten) auch eindrucksvoll genug, um nahezu alle Nichtaffen hinter sich zu lassen. Schwimmen und tauchen kann auch längst nicht jeder im Tierreich. Die Sprungfähigkeiten sind in Relation zu anderen auch gar nicht so schlecht, und bezüglich der Körperkraft der ersten Menschen und ihrer Vorfahren darf man nicht unbedingt den heutigen Bürohengst als Maßstab verwenden. Physisch so schwach, wie es gerne dargestellt wird, ist der Mensch keineswegs, und auf seine Vorfahren darf man wohl einiges davon übertragen.

Immer auf der Hut vor Jägern, denen er nur durch schnelle Flucht entkommen kann? Als Einzelwesen sicherlich, und in den Anfängen, als Nahrung zwischen locker stehenden Bäumen gesucht, deren Nähe aber noch nicht verlassen wurde, war Flucht wohl das angesagte Modell. Bei den ersten Vorfahren, die von den Bäumen weiter auf die Ebene wechselten, darf man mit gutem Grund allerdings das Pavian-Modell unterstellen: eine Raubkatze hatte bei einem Angriff gleich die ganze Horde am Hals, ursprünglich vermutlich noch mit einem Wehrgebiss ausgestattet und in Anlehnung an die Verhaltensweisen der heutigen Schimpansen möglicherweise in der Lage, einen herumliegenden Stock gegen die Feind zu schwingen. Reine Flucht hätte eine solche Population schnell dezimiert. Da sich die Entwicklungslinie bislang erfolgreich dem Aussterben verweigert hat …

Wieso jedoch der Wechsel vom Baum auf die Ebene? Das Modell eines stärkeren Wettbewerbers im Geäst ist wenig plausibel, wenn bereits die ersten Typen ziemlich tough waren. Ein plausiblerer Grund wäre ein Klimawandel. Wird es trockener, wird es für Bäume schwieriger, der Wald schrumpft und die Savanne breitet sich aus. Lebewesen in einem räumlich isolierten Wald haben dann ebenfalls ein Problem. Wenn die Bäume lichter werden und damit auch weniger Früchte zur Verfügung stehen, müssen sie zwangsweise auf den Boden wechseln. Entweder sie passen sich dann an oder gehen mit dem schwindenden Wald zu Grunde. Also runter von den Bäumen!

Eine Problem dabei ist der Nahrungsbedarf. Nach den Fossilfunden hatten bereits die ersten Typen Gehirne mit erhöhtem Bedarf. Ein hoher Energiebedarf des Gehirns bedingt einen Bedarf an energiereicher Nahrung, und die war in Form tierischer Nahrung in den wildreichen Randgebieten eher zu finden. Es ist nun müßig, sich die Frage zu stellen, ob ein aktiveres Gehirn zum Fleischkonsum oder der Fleischkonsum zu einem aktiveren Gehirn geführt hat. Die eigentliche Frage ist: sind unsere Vorfahren bereits als Jäger (oder Aasfresser) von den Bäumen gestiegen oder gleichzeitig mit dem Waldrückgang dazu mutiert?

Nun ist also unser Vorfahre aus irgendeinem Grund in der Savanne gelandet und richtet sich nun auf die Hinterbeine auf. Außer der Theorie, dass jemand mit größerem Überblick schneller weglaufen kann, muss es auch andere Modelle geben, zumal das Weglaufen, wie wir schon begründet haben, nur in einer bestimmten Phase der Entwicklung wirklich Sinn macht (wenn nämlich die Gruppe als Ganzes auf Bäume flüchten kann) und aufrechter Gang gar nicht nötig ist, wenn man einen Wachposten auf dem nächsten Baum postiert, der vor dort noch bessere Übersicht hat.

Gehen wir einmal davon aus, dass wir mit der Vermutung, unserer Vorfahren hätten sich relativ schnell auch tierischen Nahrungsquellen zu Nutze gemacht. Im Vergleich zu Raubkatzen ist ein Affe als Ausgangsmodell schlechter als Jäger geeignet, da ihm die Sprungmuskulatur der Hinterbeine, Krallen und übergroße Gebisse fehlen. Schon bei der Verteidigung nutzen Schimpansen heute Stöcke als primitive Waffen, die allerdings zufällig in der Nähe herumliegen müssen. Das Gleiche gilt für Werkzeuge, wenn es etwa gilt, ein Ameisennest zu öffnen. Unterstellen wir einmal, dass auch die frühen Arten über diese Techniken verfügten und sie auch bei der Jagd benutzten. Der Savannenbewohner steht dann allerdings vor einem Problem, denn Stöcke liegen in der Nähe von Bäumen herum, aber nicht unbedingt in der flachen Grasebene. Könnte der Urhominide irgendwann auf die Idee gekommen sein, einen Stock als Werkzeug oder Waffe mit sich herum zu schleppen, statt darauf zu bauen, dass im passenden Moment irgendwo etwas herumliegt? Trifft diese Vermutung zu, wäre ein aufrechter Gang vorteilhaft, weil es dann einfacher ist, das Werkzeug mit sich zu führen, und auch die Gegenstellung des Daumens bei der menschlichen Hand wäre von Vorteil, weil sich das Werkzeug damit besser handhaben lässt. Aufrechtere Haltung – besserer Waffen/Werkzeugeinsatz – mehr Beute und bessere Ernährung – größere Population — wir kommen mehr oder weniger automatisch bei uns an, wenn wir dieses Modell unterstellen. Nachweisen lässt sich natürlich nichts, denn an den Fossilien ist nichts abzulesen und ein Stock dürfte inzwischen vermodert sein.

Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch ein weiteres Modell, das zeitweise in der Wissenschaft diskutiert wird: der semi-aquatisch lebende Vorfahre. Danach suchten unsere Vorfahren in seichten Gewässern nach Nahrung. Auch dies würde ein aufrechtes Gehen fördern, da damit tiefere Gewässer begehbar sind, Hände müssen zum Greifen geeignet sein, was mit der Daumenstellung realisiert ist. Für das Modell sprechen weiterhin die geringe Behaarung, die schnelles Trocknen ermöglicht, Atemreflexe, die das Eindringen von Wasser in die Atemwege beim plötzlichen Abtauchen verhindern, die im Vergleich zu den Menschenaffen wesentlich dickere Fettpolsterung der Unterhaut gegen Auskühlung sowie einige andere physiologische Eigenschaften des menschlichen Körpers. Eine innere Logik ist zwar nicht zu verkennen, aber der Haken liegt zum Einen darin, dass irgendwann das aquatische Habitat vollständig verlassen wurde, denn es gibt nirgendwo Hinweise auf Wassermenschen, zum Anderen die Verbreitung der Fossilien und die sonstigen Spuren der Menschen eher mit einem Savannentyp, der sich großräumig mit den Savannen verteilen kann, vereinbar ist als mit einem Wassertyp, der dem Wasser zum nächsten geeigneten Habitat folgen muss.

Wie ist die Entwicklung nun wirklich verlaufen? Zwar hat sich die Wissenschaft inzwischen auch ein wenig von dem entfernt, was oben als „gängiges Modell“ bezeichnet wurde (auf die Trägheitsmomente haben wir ja bereits hingewiesen), aber das hier präsentierte Jäger-Modell ist immer noch deutlich aggressiver als das, was in der allgemeinen Diskussion zu finden ist. Da allerdings kaum etwas bewiesen werden kann – aus den Zähnen kann man daraus schließen, wie etwas zermahlen wurde, aber nicht, wie es zwischen die Zähne kam – sind solche Freiheiten erlaubt.

 

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