Im Fall Sami A. hat die Exekutive die Justiz ausgetrickst und den mutmaßlichen Terroristen widerrechtlich ausgeschafft. Deshalb ist der Rechtsstaat in Gefahr. So zumindest unisono die politisch korrekten Parteien und Journalisten. Kann man aber auch anders herum sehen: das Gericht hat sich selbst ausgetrickst. Anders als bei einem abgelehnten Asylantrag, der so lange nicht rechtskräftig wird wie ein Widerspruchsverfahren anhängig ist, bleibt ein Ausschaffungsbeschluss erst einmal rechtskräftig, so lange kein Gericht eine einstweilige Verfügung vorlegt, die die Ausschaffung untersagt. Hat in diesem Fall das Gericht nicht gemacht, sondern „ist davon ausgegangen, dass …“. Was diese Ausrede wert ist, weiß jeder, der mal mit irgendeiner Behörde zu tun gehabt hat. Also wirklich „Rechtsstaat in Gefahr“? Oder nicht doch viel harmloser?
Siet 14 Jahren versuchte der Staat, Sami A. auszuschaffen. Jedes Mal verbot ein Gericht das. Darunter ein Urteil, nach dem „die Androhung der Ausschaffung zulässig ist, nicht aber deren Durchführung“. Was Richter sich dabei denken, bleibt wohl ihr Geheimnis. Hintergrund für den Zwist ist eine „mögliche Folter von Sami A. in Tunesien“. Häftlinge berichten von Folterungen, die tunesische Regierung dementiert, eine unabhängige Untersuchungn gibt es nicht, die deutsche Regierung hält sich an die tunesische, die deutschen Gerichte an unbestätigte Aussagen von Leuten, die noch nicht mal als Zeugen geladen wurden. Rechtsstaatlichkeit aufgrund einer unbestätigten Behauptung?
Mal von außen beurteilt:
- Gefoltert wurde mit dem Ziel, gerichtsverwertbare Geständnisse zu erhalten, so die angeblich Gefolterten. Spätestens seit Guantanamo weiß aber jeder, wie man mit diesem Ziel foltert, ohne dass das auffällt, weil bleibende körperliche Schäden nicht entstehen.
- Angeblich gefoltert wurde aber mit Methoden, die dem Mittelalter in nichts nachstehen. Eher im Gegenteil. Angeblich kam es zu offenen Knochenbrüchen und anderem, was man a) oft nicht überlebt und b) in einer Verhandlung auffällt.
- Bei den unterstellten Foltermethoden kann man wohl mittelalteranalog voraussetzen, dass die Gefolterten alles gestehen. Hätten sie das gestanden, was von ihnen angeblich erpresst werden sollte, wären sie aber nie in die Position gelangt, das noch irgendjemand mitzuteilen, geschweige denn, das zu dokumentieren.
- Spätestens seit den Weißhelmen in Syrien weiß auch jeder, dass ein Oberkörper mit heraushängenden Gedärmen anstelle des Beckens und der Beine problemlos gefälscht werden kann.
Also rein logisch betrachtet sollte man erst einmal der Regierungsversion trauen und nicht denen der Gerichte. Aber wie läuft es denn sonst so mit der Rechtsstaatlichkeit?
Eines der grundlegenden Rechtsstaatsprinzipien ist die Rechtssicherheit. Einfacher beschrieben: kein Gesetz kann rückwirkend Geltung erlangen. Wenn ich heute etwas legales mache, kann mir daraus niemand einen Strick drehen, wenn morgen ein Gesetz kommt, dass etwas anderes sagt. Umgekehrt gilt das auch: vor 40 Jahren nach dem Schwulenparagraphen § 175 StGB Verurteilte können sich heuten nicht auf Ungültigkeit und Wiedergutmachung berufen, weil heute die Einstellung zur Homosexualität eine andere ist. Klare Sache, oder? Nun, nicht ganz. Der Bundestag hat schon mehrfach Steuergesetze beschlossen, die rückwirkend in Kraft traten. 2012 wurde beschlossen, dass ab 2008 eine Steuer zu zahlen war, d.h. die Beträge wurden vom Finanzamt nachgefordert. Widerspricht dem Rechtsstaatsprinzip, aber weder dem Gesetzgeber noch den Gerichten, dass Bundesverfassungsgericht eingeschlossen, konnten das so sehen. Für sie war die rückwirkende Steuererhebung in Ordnung (begründet mit der verspäteten Umsetzung einer EU-Verordnung).
Und noch eine Merkwürdigkeit in Sachen Steuern: Urteile der höchsten Gerichte sind in der Regel Grundsatzurteile, d.h. sie können/werden nicht mehr geändert und alle anderen Gerichte sowie sämtliche Behörden müssen sich von Amts wegen zwingend an diese Urteile halten. Bis auf Urteile des Bundesfinazhofs. Für die gilt das nicht. Der Bundesfinanzminister kann die Finanzämter anweisen, die Urteile zu ignorieren. Konkret: beim Kläger muss das Finanzamt dem Urteil nachkommen, bei gleichartigen Fällen anderer Steuerzahler nicht. Die müssen innerhalb der Fristen Widerspruch mit Verweis auf das Grundsatzurteil einreichen, um zu ihrem Recht zu kommen. Rechtsstaat? Irgendwie nicht.
Dass Gerichte nun auch nicht viel rechtsstaatlicher sind als andere Institutionen, hat das BVerfG unlängst mit dem Urteil über Rundfunkgebühren bewiesen. Ein Prinzip des Rechtsstaats ist nämlich auch, dass eine Partei nicht aktiv im Verfahren teilnehmen darf. So darf ein Polizist nicht ermitteln, wenn ein Familienangehöriger beschuldigt ist usw. Es tritt zwar immer wieder auf, dass eine Verwaltungsinstanz in dieser Hinsicht nicht neutral ist, aber sei es drum. Dass aber ausgerechnet sich das BVerfG sich darüber hinweg setzt und einen Richter über ein Gutachten seines Bruders urteilen lässt, ist schon ein starkes Stück Verletzung der Rechtsstaatlichkeit.
Es geht aber nicht nur bei uns so kunterbund zu, deshalb auch noch ein Beispiel aus den USA. Illegale Einwanderer werden, wenn sie erwischt werden, von der Grenzschutzbehörde oder der Ausländerbehörde wieder in ihre Länder zurück expediert. Das ist geltendes Recht in den USA, an das sich alle Behörden zu halten haben – oder besser hätten. Illegale, die es ins Landesinnere geschafft und dort Arbeit gefunden haben, können die Einkünfte nämlich beim US-Finanzamt angeben und werden damit steuerpflichtig. Die Finanzämter haben Order, solche Leute (gesetzwidrig) nicht an die Ausländerbehörde zu melden. Mit einem Steuerbescheid können sich die Migranten auch eine Sozialversicherungsnummer ganz offiziell besorgen (auch die sagen der Ausländerbehörde nichts weiter), mit der wiederum ganz offiziell Bankkonten eröffnet, Eigentum erworben und Kredite erhalten werden können. Die Illegalen können sich also verhalten wie normale US-Bürger. Auffliegen können sie nur durch Zufall. Der schlägt natürlich auch manchmal zu, und die Ausländerbehörde kann die Abschiebung beschließen. Wie im Fall Sami A. besteht aber auch in den USA die Möglichkeit, ein Gericht anzurufen, wobei die Freiheiten, welches Gericht man auswählen kann, deutlich größer ist als hier. Solche Gerichte sind natürlich völlig überlastet, und es ist schon Standard, dass ein Richter die Verhandlung über ein 2018 anhängig gemachtes Verfahren auf 2024-2026 legt. Bis dahin kann vieles passieren. Der Illegale hat Eigentum erworben und möglicherweise bereits schulpflichtige Kinder, die, da in den USA geboren, automatisch US-Staatsbürger sind. Darf man die illegal im Land befindlichen Eltern eines minderjährigen US-Bürgers abschieben? Nicht ganz einfach zu lösen. Und jedenfalls nicht unbedingt etwas, was man mit „rechtsstaatlich“ bezeichnen kann.