Karl der Große

ist ein gutes Beispiel für die Abhängigkeit der historischen Bewertung vom Einfluss des Zeitgeistes. Hätte man seine Zeitgenossen gefragt, wäre das Urteil der überwiegenden Mehrheit in der Form „ein übler Schlächter und Verbrecher“ ausgefallen. Von Größe keine Spur.

Karl hat in den 52 Jahren seiner „Regierung“ 51 Jahre Krieg geführt, und zwar gegen die Bevölkerung seines „Reiches“. Die Anführungszeichen deuten schon an, dass sowohl Regierung als auch Reich die falschen Ausdrücke für das sind, was wirklich geschehen ist. Ein Reich im Sinne der antiken Kulturen von den Ägyptern bis zu den Römern hat es nämlich nie gegeben, weil das eine geordnete Reichsverwaltung voraussetzt, die bei Karl nicht existiert hat. Das Reich war dort, wo der Kaiser war, und der zog von Pfalzburg zu Pfalzburg und pflegte die örtlichen Fürsten um sich zu versammeln. Der einzige wirkliche Verwaltungsakt war das jährliche Zusammenrufen des Kriegsheeres, aber auch das nur aus einem begrenzten Gebiet. Mit diesem Heer pflegte Karl durch die Lande zu ziehen, um zu rauben, was zu rauben da war, und niederzuhauen, was zufällig auf seinem Weg lag. Sein auf Karten im Geschichtsatlas dargestelltes Reich war nichts anderes als das Gebiet, in das er mit seinen Soldaten in den 52 Jahren seines Wirken vorgedrungen war. Entsprechend seines Wirken – umherziehen und alles kurz und kein schlagen – sind auch keine Hinterlassenschaften außer ein paar Mauerresten seiner Pfalzburgen auf uns gekommen. Man vergleiche einmal mit den Hinterlassenschaften der Römer, Ägypter usw.

Den Beinamen „der Große“ hat er sich durch seine Zusammenarbeit mit der Kirche vedient. Die hatte nämlich schon 400 Jahre Erfahrung darin, übelste Verbrecher, die ihr zu Macht und Reichtum verhalfen und Konkurrenten liquidierten, zu Heiligen zu stilisieren und ihre Anhänger durch Gehirnwäsche zu fügigen Gefolgsleuten zu erziehen. Vermutlich die einzige große Leistung Karls bestand darin, das frühzeitig erkannt und sich mit der Kirche verbündet zu haben. Karl brachte Sachsen um – „eine gottgefällige Tat, Heiden von ihrem Leiden zu erlösen“. Standardansicht seit Kirchenlehrer Augustin und anderen. Die Kirche machte ihn zum Großen – und baute ein paar eindrucksvolle Krichen aus dem Raubgut, mit denen Karl allerdings wenig zu tun hatte.

Über die Jahrhunderte hielt die Kirche dieses Geschichtsbild hoch, hatte es ihr doch zu Macht über den größten Teil Westeuropas verholfen. Heute ist der Stern der Kirche im Sinken begriffen, und unter den heutigen Historikern findet man inzwischen viele, die den Beinamen „der Große“ in Zweifel stellen und Karl eher als den Schlächter interpretieren, der er war.

Karl war ein Sieger, und deshalb groß. Ebenfalls ein „Großer“ war Napoleon, der ganz Europa mit Krieg überzog; nach Anzahl der Toten, die auf sein Konto gehen, sicher einer der ganz großen (in die Reihe passen auch noch andere, aber das soll hier nicht ausufern). Nun war Napoleon kein Sieger (weshalb man ihn außerhalb Frankreichs auch nicht unbedingt als „groß“ bezeichnet), allerdings auch kein absoluter Verlierer. Auf dem Wiener Kongress verkniff man es sich nämlich, Hand an Frankreich zu legen und dem Unterlegenen die Geschichte zu diktieren (was ein Fehler war, denn die ehemals burgundischen Länder Elass und Lothringen wurden von den letzten Ludwigs annektiert und waren nach dem Zerfall des Großherzogtums Burgund urspünglich an deutsche Fürsten gekommen; von diesem Versäumnis führt eine mehr oder weniger gerade Linie zum ersten Weltkrieg). Für national gesinnte Franzosen ein Grund, sich darüber aufzuregen, dass „eine reaktionäre Clique von Kaisern und Königen den glorreichen Spross der Revolution abgewürgt hat“.

Napoleon wie ein paar spätere Verbrecher gaben aber dem Volk erst einmal das Gefühl, (wieder) etwas zu sein, womit wir schon bei Hitler sind. Alles, was heute über die Zeit gesagt wird, entstammt einer von der Entnazifizierung geprägten retrospektiven Sicht. Zu seiner Zeit war er im Volk groß (im Gegensatz zu Karl), hätte er den Krieg gewonnen, wäre er es noch heute. Das rigorose, vom Sieger diktierte Geschichtsbild lässt aber noch nicht einmal die Anerkennung von Leistungen zu, die unter neutraler Betrachtung anzuerkennen wären (wer jetzt in Schnappathmung verfällt, demonstriert damit nur, wie gut die Konditionierung sitzt). Bis heute wird dieses absolute negative Geschichtsbild in Deutschland ohne Abstriche vertreten, was etwas irritierend wirkt, denn noch nicht einmal in den Siegerstaaten sind die Historiker derart hartnäckig wie die deutschen. Als Verlierer wird Hitler natrülich nie ein großer werden; dazu ist das, was während seiner Zeit geschehen ist, auch nicht geeignet, es ist jedoch durchaus möglich, dass Historikergenerationen in einigen Jahrzehnten zu anderen Beurteilungen bestimmter Zusammenhänge kommen (Schnappathmung aufnehmen!).

Aus der Zeit des 2. WK führen Wege auch wieder in die aktuelle Welt: Türkenchef Erdogan hält sich, neutral betrachtet, erstaunlich genau an Vorlagen von Leuten wie Hitler (ich habe das anderswo dargestellt), was aber nicht dazu führt, dass er aus westlichen Politikerkreisen antsprechenden Gegenwind bekommt (man hat ja auch mit Stalin paktiert, und der war ein noch größerer Verbrecher). Außerdem hat Erdogan – er gibt seinen Türken das Gefühl, wer zu sein – selbst in der 3. Generation der hiesigen Türken nur Anhänger, keine Gegner. Was draus wird, bleibt abzuwarten, aber als Lehre aus dem aktuellen Verhalten wäre zumindest zu ziehen, dass alle Kritik an der deutschen Bevölkerung nach 1933, „man hätte doch sehen können …“, ausgemachter Unfug ist. Man kann es heute auch nicht sehen, und ob es Gut geht, wird die Zukunft zeigen. Dann wird Erdogan entweder ein Großer, der Vernichter der türkischen Gesellschaft oder ein Chaot unter vielen sein. Die zukünftigen Historiker werden sich dann sehr genau festlegen und harsche Kritik an der Bevölkerung äußern – vermutlich aber auch nur, um von der folgenden Generation mit einer „höheren Sicht“ wieder korrigiert zu werden.