Der Rückgang der Bevölkerung und der damit einhergehende demografische Wandel wird ja stets beklagt. Würde man die Ursachen medizinisch untersuchen, wäre der Grund im Ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Bereich vermutlich schnell gefunden: es gibt anscheinend keine Wissenschaftler mehr, die Eier in der Hose haben, was die Fortpflanzungsoptionen etwas einschränkt.
Sich Verständnis für ein naturwissenschaftliches Gebiet zu erarbeiten ist nicht einfach. Man muss wesentliche von unwesentlichen Fakten unterscheiden, um sich das Richtige zu merken, und sich gewisse Denkschemata aneignen. Genau das – Verständnis und damit die Fähigkeit, sich kurzfristig in Probleme einzuarbeiten – soll ein Hochschulstudium bewirken, und nicht etwa ein Faktenwissen, wie oft unterstellt wird. Fakten sind tote Materie, Beziehungen zwischen Fakten sind das A und O.
Ideen zu haben ist schon ein anderes Problem, selbst wenn man die Übersicht hat, und eine Idee umzusetzen ist oft eine noch größere Voraussetzung. Da viele Leute auf jedem Gebiet arbeiten, kommen trotzdem in einigen Jahren, in denen man sich vielleicht nicht damit beschäftigt, immense Mengen an Ideen und Realisierungen zusammen. Wie soll dann aber beispielsweise jemand, der 2000 mit Computertechnik beschäftigt war, einen Computer des Jahres 2016 verstehen? Er muss ja alles nachholen!
Genau dieser Gedanke ist grundfalsch. Die Prinzipien haben sich ja nicht geändert. So schwer es ist, Ideen zu haben und umzusetzen, so einfach ist es, einen ganzen Schwung Ideen und Umsetzungen verständnismäßig aufzuarbeiten. Ich habe letztmalig 1982 aktiv mit der Chemie zu tun gehabt, traue mir aber durchaus zu, nach „gib mir ein paar Stunden“ zu bestimmten Sachen Stellung zu nehmen, wenn man mich fragen würde.
Leider trifft man zunehmend seltener auf Leute, die zu ihrem eigenen Fachgebiet Stellung beziehen wollen, selbst wenn es ein Thema ist, das auch durch die halb- und nichtwissenschaftliche Presse geistert wie Quantencomputer. In den letzten 20 Jahren Hochschule habe ich verschiedenes ausgegraben, was dem gängigen Bild widerspricht, und immer wieder versucht, zur eigenen Absicherung mit Kollegen darüber zu reden. Aber mit Mathematikern über Mathematik reden? Zumindest in den Kreisen, auf die ich Zugriff habe, eine Unmöglichkeit:
- „Da bin ich nicht so drin.“
- „Das ist nicht mein Fachgebiet.“
- „Ich habe im Moment furchtbar viel mit Klausurkorrekturen zu tun – vielleicht in einem Monat?“
- …
Keine Eier in der Hose eben, und zwar weder, sich mal kurz an eine Sache zu setzen und eine unverbindliche Meinung zu äußern, noch klipp und klar zu sagen „dein Scheiß interessiert mich nicht, also schleich dich!“.