In Sachen „Eignung für Verschwörungstheorien“ steht der Fall Skripal trotz der geringen Primärauswirkung gleichberechtigt neben der Lousitania-Versenkung im 1. Weltkrieg, dem Überfall auf Pearl Harbour im 2. und 9/11. Die Zahl der Merkwürdigkeiten ist scheinbar unbegrenzt.
Skripal war mutmaßlich britischer Spion. Bis ca. 2000 war er beim GRU beschäftigt, wurde 2004 als Spion des britischen MI6 enttarnt, für den er ab irgendwann in den 1990er Jahren tätig gewesen sein soll, 2010 gegen enttarnte russische Spione in Großbritannien ausgetauscht und lebt seitdem in Großbritannien. Im Grunde fangen bereits bei dieser Vorgeschichte die Ungereimtheiten an. Skripals Familie bestreitet den Geheimnisverrat, und es mutet auch merkwürdig an, dass ein Verräter vier Jahre vor der Enttarnung die Tätigkeit niederlegt, aus der heraus er dem Auftraggeber wichtige Informationen beschaffen kann. War er nun Spion oder irgendein Bauernopfer in einem Spiel der Geheimdienste? Wie dem nun sei, zumindest war er so unwichtig, dass sowohl die Russen als auch die Briten nichts gegen den regelmäßigen Besuch durch seine Tochter Julia hatten, die weiterhin in Russland lebte.
Im März 2018 wurden Skripal und seine zu Besuch weilende Tochter mit Vergiftungserscheinungen auf einer Parkbank gefunden. Sie waren zuvor mit dem Auto in die Stadt zu einem Restaurant gefahren, hatten dort gespeist und wollten anschließend zurück, alles in allem ca. 3,5 Stunden nach Verlassen der Wohnung. Beide überlebten die Vergiftung, die einige Tage später auf das Nervengift Nowitschok zurückgeführt wurde. Verschiedenen Medien, die sich auf UN-Experten berufen, behaupten, Nowitschok wirke innerhalb weniger Sekunden bis Minuten. Die beiden müssen also in der Nähe der Fundstelle vergiftet worden sein, wenn die Behauptung stimmt (widersprochen wurde ihr nicht).
Nowitschok ist ein binäres Gift, d.h. man muss die Komponenten vor dem Einsatz mischen. Das hat einerseits den Hintergrund, dass man die Stoffe gefahrlos transportieren kann, viel wichtiger aus militärischer Sicht ist aber die Stabilität des Stoffes: binäre Kampfstoffe sind nicht sonderlich stabil und zersetzen sich, so dass man nach kurzer Zeit wieder an den Ort des Geschehens zurückkehren kann, ohne Gefahr zu laufen, selbst vergiftet zu werden. Hier kam es fast 4 Monate später allerdings zu einem weiteren Vergiftungsfall, an dem eine Frau starb, wobei es sich angeblich Rest des ersten Giftes handelt. Aber auch hier behaupten verschiedene Seiten, Nowitschok wäre in Übereinstimmung mit dem Konstruktionsziel von binären Kampfstoffen höchstens einige Tage bis maximal 2 Wochen stabil und hätte sich in 4 Monaten restlos zersetzt. Gleiches Gift, aber eine andere Charge?
Ebenfalls erstaunlich: bereits 3 Tage nach der Einlieferung von Skripal und seiner Tochter ins Krankenhaus identifizierten die Briten das Gift als Mitglied der Nowitschok-Nervengiftgruppe, die von den Russen entwickelt worden war. Genauer sogar, als einen Stoff, mit dem die Russen experimentiert hatten. Die Russen wiederum leugnen die Entwicklung nicht, behaupten aber, das Gift nie einsatzfähig gemacht, sondern die Entwicklung eingestellt zu haben. Nowitschok ist nicht in der Liste der chemischen Kampfstoffe aufgeführt und daher recht unbekannt.Den Russen wird das als Betrug ausgelegt, allerdings argumentieren die Russen, zur Zeit der Chemiewaffenabkommen wäre es nicht fertig entwickelt gewesen und man hätte es deswegen nicht bekannt gemacht, da die Entwicklung ohnehin eingestellt worden wäre. Diese Argumentation hat die Logik für sich: wenn man sich mit jemandem über die Zahl der Leichen im Keller einigt, dann über die Leichen, die der andere kennt, und nicht über weitere, bei denen man erst erklären müsste, wie sie gestorben sind. Die Amerikaner und andere köcheln mit Sicherheit in ihren Retorten auch auf irgendwelchem Zeug rum, dass sie anderen nicht auf die Nase binden. Die Existenz von Nowitschok kam erst viel später durch einen Überläufer ans Licht.
Das Gift wurde angeblich an die Türklinke von Skripals Wohnungstür gestrichen und er sowie seine Tochter durch Anfassen derselben vergiftet. Das wiederum passt wenig zu der Geschwindigkeit, mit der das Zeug wirkt. Selbst bei geringen und verspäteten Wirkungen sollte kaum jemand Lust haben, noch ein opulentes Mal zu sich zu nehmen und anschließend im Park rumzutrödeln. Also ein weiterer Stolperstein in der Logik.
Wenn ein alter Mann und eine jüngere Frau mit gleichen Symptomen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, dürfte es wenige Mediziner geben, die nicht von einer wahrscheinlichen Vergiftung ausgehen. So weit logikkonform. Für die richtige Behandlung muss man die Ursache aber erst einmal finden. Nowitschok dürfte wohl kaum auf der Liste der verdächtigen Stoffe gestanden haben, und die wenigsten Ärzte dürften dem Umstand, dass ein Exilrusse und seine Tochter vor ihnen lagen, eine geheimdienstliche Bedeutung zugemessen haben. Noch viel weniger dürfte der eine oder andere Kontakte zu Geheimdiensten haben, um den MI6 anzurufen, und die örtliche Polizei dürfte wohl auch nicht sofort Scottland Yard eingeschaltet haben, wo man solche Beziehungen pflegt. Eigenartiger Weise lag trotzdem schon drei Tage nach dem Vorfall die Expertise eines militärischen Speziallabors vor, die nebenbei durch die Detailkenntnis „russischer chemischer Fingerabdruck“ verriet, dass man sich in westlichen Militärkreisen mehr als ausgiebig mit diesem angeblich nie und nirgendwo produzierten Stoff beschäftigt hatte. Die Russen hatten ihn genauso wie die Briten, Amerikaner und andere. Wie kam man so schnell darauf, die richtigen Proben zu ziehen, um eine solch detaillierte Analyse durch eines der wenigen Labors, die überhaupt dazu im Stande sind, durchführen zu können?
Und genauso eigenartig ist die ab dem ersten Augenblick richtige Behandlung der Vergifteten. Aus anderen Vergiftungsfällen weiß man, dass Nowitschok absolut (!) tötlich ist und der Tod durch Behandlung nur hinausgezögert werden kann. Immerhin gelten die Opfer inzwischen als genesen, was bei der richtigen Spezialbehandlung mit speziellen Gegenmitteln (allgemeine Mittel wirken angeblich nicht) nicht ausgeschlossen wird, doch ist das Zeitfenster dafür nach den bereits zitierten Berichten über die Wirkung sehr klein, eigentlich nur wenige Minuten bis Stunden.
Nach ein paar Tagen wusste man in Großbritannien aber nicht nur, wie die Skripals vergiftet wurden, man wusste auch, dass die Russen dahinter standen. Beweise wurden nicht vorgelegt, trotzdem wiesen fast alle westlichen Staaten russische Diplomaten aus. Ein sehr drastischer Schritt im internationalen Maßstab. Und das ohne Beweise, wie Merkel & Co behaupten? Gab es wirklich keine, und die Ausweisung erfolgte trotzdem in Treu und Glauben? Oder gab es doch welche, die weiterhin geheim blieben? Egal, wie herum man die Sache betrachtet, das Verhalten der Regierungen ist mehr als eigenartig.
Inzwischen – viele Monate später – hat man auch die mutmaßlichen russischen Täter identifiziert. Der lange Zeitraum ist verständlich, müssen doch immense Mengen an Videomaterial und anderen Daten, die das GCHQ sammelt ausgewertet werden, sagt aber, wenn der Verdacht schlüssig sein sollte, auch schon einiges über die Sammelwut der britischen Behörden aus, die Google durchaus Konkurrenz machen. Klar, dass die beiden das abstreiten, auch klar, dass sie das im russischen Fernsehen machen dürfen. Würde Russland britische Staatsbürger beschuldigen, hätten die in Großbritannien wohl eine vergleichbare Bühne. Merkwürdig, dass nun ausgerechnet halbwegs unbekannte Medien Detail recherchiert haben wollen: die Biografien der beiden wären geheim (ich würde allerdings auch darauf bestehen, dass meine persönlichen Daten von den Behörden nicht jedem Hansel ausgeliefert werden) und ihre Pässe seien bekannten GRU-Fälschungen erstaunlich ähnlich, die beiden mithin GRU-Offiziere, einer im Rang eines Obersten. Das könnte natürlich stimmen, aber wie kommen solche Medien an solche Informationen, die von den Russen geleugnet werden? Selbst ausgedacht? Oder wurden sie vom MI6 mit irgendetwas versorgt, was sie veröffentlichen sollten?
Der GRU steckt nach den britischen Behauptungen hinter den Anschlägen. Aus Rache. Weil Skripal ihn vor 20 Jahren verraten hat. Allerdings muss man schon sämtliche Teile von Jason Bourne gesehen haben und auch sonst recht schlicht gestrickt sein, um das wirklich glauben zu können. Rache? Die Jungs sind Profis und werden sich nicht nach 20 Jahren an einem unwichtigen Typen vergreifen. Und wenn: 2 Kugeln in den Kopf und ein paar Mafia-Spuren legen würde besser passen als etwas so Auffälliges wie einen Giftanschlag. Skripal hatte angeblich dunkle Kontakte, also würde das besser passen.
Und welche Rolle spielt Skripals Tochter? Warum gerade bei ihrem Besuch ein Anschlag? Ohne sie wäre die Gefahr einer Entdeckung oder eines Misserfolges wesentlich geringer gewesen. War sie eine Agentin, und galt der Anschlag ihr? Oder waren beide noch Agenten? Die Russen hätten sie viel leichter in Russland aus dem Verkehr ziehen können, wäre sie eine britische Agentin, die Briten hätten ihr nur die Einreise verweigern müssen, wäre sie ein russische. Auch hier macht nichts Sinn, und Sinn wird in der Sache leider nicht präsentiert, außer einer Rachetheorie, die logisch nicht besser ist als eine beliebige Verschwörungstheorie.
Profiteure des Anschlags sind hauptsächlich die US-Amerikaner. Während sich die Stimmen mehren, die Sache mit der Krim die Sache mit der Krim sein zu lassen und zwar nichts anzuerkennen, aber jenseits davon endlich zur Normalität zurück zu kehren, ist die Trump-Administration an einer Isolierung der Russen interessiert, zumal die Deutschen und in Folge dessen auch die anderen Europäer mit Northstream II ihr Gasengagement in Russland ausbauen anstatt deutlich teureres und dreckiges Fracking-Gas aus den USA zu beziehen. Da kommt so ein Anschlag gerade Recht. Die Briten wiederum sind mitten im Brexit gefangen. Ihnen nützt der Anschlag direkt recht wenig, aber der Eifer, mit dem sie die Sache verfolgt haben, rückt sie näher an die USA.
Könnten die USA die Drahtzieher dahinter gewesen sein? Die CIA ist dafür bekannt, nicht gerade zimperlich zu sein, die Mittel hätten sie gehabt, und Töchterchen Skripal macht bei so einem gefakten Attentat ebenfalls Sinn, kann man mit ihr doch die rechtzeitige Entdeckung sowie den direkten Angriff auf die Tränendrüsen der Zeitungsleser begründen. Waren sie es, und die Briten sind nach der US-Pfeife getanzt?
Um dem ganzen die Krone der Verwirrung aufzusetzen, schließt Töchterchen Skripal nicht aus, wieder nach Russland zurück zu kehren; die russische Botschaft habe ihr entsprechende Unterstützung zugesagt. Skripal selbst bezeichnet sich als russischen Exilpatrioten und glaubt nicht, dass Russland hinter dem Anschlag steckt. Laut einem von ihm geschriebenen Buch will er nun doch Geheimnisse verraten, aber nie Kontakt mit einem britischen Geheimdienstoffizier gehabt haben. Was er allerdings verraten haben will, ist so unbedeutend, dass es allenfalls eine Tracht Prügel rechtfertigt, aber keinen heimtückischen komplizierten Rachemord. Hat er nun doch etwas verraten? Hatte er (sehr unwahrscheinlich) noch Kenntnisse in der Hinterhand, die gefährlich genug für einen Mordanschlag waren? Oder schreibt er ein Buch nach dem Motto „was John le Carré kann, kann ich auch“?
Was also nun? Steckt Russland dahinter? Mit dem einzigen Motiv Rache, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt und mit den denkbar ungünstigsten Methoden? Oder die Briten, die kein erkennbares Motiv haben, dafür aber alles in gewünschter Weise manipulieren konnten, das allerdings unprofessionell mit so vielen Logiklücken, dass man zwangsweise hineinstolpert? Oder die smarten US-Boys, die mutmaßlich ein Motiv besitzen und die genau mit dieser scheinbar dilettantischen Durchführung die gewünschte Wirkung erzielt hätten? Und wenn letzteres der Fall sein sollte, warum haben die Briten mitgespielt, in einer Weise, die eigentlich nicht der britischen Sorgfalt entspricht? Musste es schnell gehen? Oder war der mutmaßliche Dilettantismus gezielte Strategie, um Zweifel bei Zweiflern wie mir zu wecken? War Skripal ein passenden Opfer, weil er schon einmal Opfer einer britischen Intrige war und nun ein weiteres Mal geopfert wurde, ohne im Inneren der Dienst Loyalitätsängste auszulösen?
Fassen wir zusammen: ????????????????????????????????, so viele Fragezeichen enthält der Text. Das dürfte genügen, den Fall als Kandidat für Verschwörungstheorien tauglich zu machen, selbst wenn ich was vergessen habe. Und als Kandidat für Verblödungstheorie von denjenigen, die immer noch kein Fragezeichen entdecken können.