Kapitel 8: Ursprünge der Religion
Folgt man den Standardvorstellungen, war die Menschheit, Neandertaler und andere Formen eingeschlossen, von vornherein ziemlich extrem religiös ausgerichtet. Der durch Funde abgebildete Zeitraum ist zwar begrenzt, aber trotzdem: kleine Steinfigürchen – Abbildungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen; Schnitzereien auf Horn – Beschwörung von Beute; Höhlenmalerei – Beschwörung der Tierseele für bessere Jagderfolge; geschnitzte Knochen – religiös-rituelle Entschuldigung beim Jagdopfer; aufgeschlagene Menschenknochen – rituelle Aufnahme des Toten (diese Funde reichen zum Teil sehr weit zurück); versenkte oder vergrabene Tiere – Opfer an die Götter, usw. Kann das eigentlich alles stimmen?
Nehmen wir einmal an, ein Archäologe gräbt in einigen Jahrtausenden unsere Hinterlassenschaften aus. Was würde er finden? Wanderstöcke mit in die Rinde geschnittenen Mustern – Beschwörungsformeln von Waldgöttern; Wände mit bedruckten Tapeten – Runen zur Fernhaltung von bösen Geistern; Bildern von röhrenden Hirschen – Abbild eines Tiergottes; mit Dollarscheinen bedruckte Klopapierrollen – Dauergebetsrolle für besonders gefürchtete Götter, usw.
Das ist natürlich Quark. Der Wanderer hat in einer Pause aus lauter Langeweile an seinem Stock herumgeschnitzt, zu Hause soll es natürlich schön und abwechslungsreich aussehen und Dank anderer Gewohnheiten kann der Archäologe nichts mit einem Gebrauchsgegenstand anfangen. Unsere Vorfahren dürften ebenfalls oft Mußestunden gehabt haben, die sie nicht nur mit Dösen, sondern ablenkenden Handarbeiten verbrachten und die Höhle oder Hütte wurde erst einmal wohnlich hergerichtet, wenn man ein paar Tage blieb. Vermutlich werden manche/viele Fundstücke tatsächlich in irgendwelchen Riten Verwendung gefunden aber, aber alles und jedes einem Kult unterzuordnen ist sicher überzogen. Höhlenmalerei kann ebenso nur Geschichten erzählen, zu denen sich der prähistorische Künstler berufen fühlte. Aufgeschlagene Menschenknochen sind vielleicht auch nur Reste der Verwertung aller zur Verfügung stehender Nahrung unter Einschluss der eigenen Artgenossen. Vergrabene oder in Seen versenkte Tiere können auch lediglich die Beseitigung überschüssiger, nicht mehr verwertbarer Jagdbeute sein, um keine Räuber anzulocken.
Eine Überraschung erlebten von kurzem Archäologen, die professionelle Spurenleser der San in eine Höhle mitnahmen, die bis dahin als Kulthöhle mit allerlei religiösen Brimborium galt. Nach Begutachtung der mehrere 10.000 Jahre alten Spuren und kurzer Diskussion waren sich die Spurenleser einig: die Höhle war eine normale Wohnhöhle einer Familie mit mehreren Kindern, also nix Kulthöhle. Selbst die Anzahl der Bewohner und einige der Tätigkeiten konnten die Spurenleser entschlüsseln. Nun wird befürchtet, dass man viele der prähistorischen Vorstellungen umschreiben muss, wenn man solche Leute auch in andere Fundstätten mitnimmt.
Nun ist nicht zu leugnen, dass Religion in der dokumentierten Geschichte einen größeren Raum einnimmt und es bis heute zu regelrechten Exzessen kommt, die mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu verstehen sind. Aus dieser Erfahrung ist der überzogene Export in die Vergangenheit schon ein wenig verständlich. Aber wie könnte denn überhaupt dieser religiöse Hang des Menschen entstanden sein? Ist das tief im Innersten festgelegt? Oder handelt es sich um eine Zwangsfolge der Intelligenz, die den unruhigen Geist auf aberwitzige Wege treibt, wenn sonst nichts los ist? Die folgenden Gedanken sind (mal wieder) freie Spekulation. Vielleicht ist was dran, vielleicht war es aber auch ganz anders.
Beginnen wir recht früh in der Religionsgeschichte, ohne uns auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Menschentyp festzulegen. Es könnte bereits der moderne Mensch sein, es könnte aber auch einen der Vorfahren betreffen, der schon genügend Intelligenz entwickelt hatte, um in Ruhephasen über irgendetwas zu sinnieren. Wobei wir aus heutiger Sicht und auch der von Kapitel 6 aber auch einschränken können: der Mensch ist im Wesentlichen ein Nachahmer, kein Erfinder. Die Erfindung Gottes wäre schon schwierig genug, angesichts der Zeiträume, die wie zu betrachten haben, allerdings keine Unmöglichkeit. Schwieriger wäre es schon, die anderen davon zu überzeugen, dass ein Glauben Vorteile mit sich bringt. Ein weniger abstrakter Anfang hätte vielleicht mehr Aussicht auf Erfolg.
Betrachten wir die Rahmenbedingungen: Der Mensch lebt in sozialen Gruppen, was vorzugsweise erst einmal bedeutet, dass eine Rangordnung in der Gruppe besteht. Anführer ist der, der in der Lage ist, allen anderen was aufs Maul zu hauen. In der Regel ist das eines der mittelalten Gruppenmitglieder, der seine Position auch nur so lange behält, bis der nächste stärker ist als er und den Mut aufbringt, den Anführer heraus zu fordern.
Neben der Rangordnung dürfte auch ein starker sozialer Zusammenhalt zwischen den Gruppenmitgliedern bestanden haben. Für aktive Jäger besteht immer ein gewisses Verletzungsrisiko, andererseits waren die Gruppen vermutlich zu klein, um sich Verluste leisten zu können. Es dürfte für die Spezies von Vorteil gewesen sein, verletzte Gruppenmitglieder intensiv zu pflegen und später wieder in die Jagdgruppe einzugliedern. Bei schwereren Verletzungen konnten aber durchaus Behinderungen zurück bleiben, die eine weitere Verwendung auf der alten Position ausschloss. Möglicherweise war auch aus Altersgründen irgendwann Schluss mit bestimmten Tätigkeiten.
Diese gewissermaßen ausgemusterten Gruppenmitglieder waren trotzdem von Wert für die Gruppe. Sie verfügten über Erfahrung und konnten sich mit dem Sammeln und Organisieren von nützlichen Informationen beschäftigen, beispielsweise von Wettersignalen, Verhalten von Tieren zur Verbesserung der Jagderfolge, Heilmethoden bei Verletzungen oder Krankheit, Kenntnisse von Kräutern oder Pilzen, Werkzeugherstellung usw., d.h. solche Gruppenmitglieder werden zu Experten und Ratgebern, deren Ansichten man einzuholen pflegte.
Spinnen wir den Faden weiter: Dieses Wissen war für die Gruppen sicher wertvoll genug, um tradiert zu werden. Die Experten werden Schüler rekrutiert haben, an die sie das Wissen weiter gaben, darunter auch Wissen, dass den anderen Gruppennmitgliedern nicht zur Verfügung stand. Am Ende dieser Entwicklung stehen die Schamanen, und der Rat des Schamanen wurde sicher bei vielen Gelegenheiten eingeholt, was ihn rangmäßig neben den Clanchef emporhob. Aber wer hat nun das eigentliche Sagen?
Der Schamane konnte seine Position gegenüber dem Clanchef verbessern, wenn er dafür sorgte, dass er nicht bei Gelegenheit befragt wurde, sondern befragt werden musste. Wenn man sich in die Position des Schamanen versetzt und sich fragt, wie das zu bewerkstelligen sein könnte, landet man unausweichlich bei den gleichen psychologischen Tricks, mit denen die Religionen bis heute arbeiten. Das fängt bei symbolischem Brimborium an. Ein Heiler wird schnell erkennen, dass er die Heilungschancen schon dadurch steigern kann, dass er psychologischen Einfluss durch irgendwelche Riten ausübt. Glaubt der Kranke an deren Nützlichkeit, steigen seine Chancen, und auch heute geht es vielen Kranken ja bereits deutlich besser, nachdem sie mit ihrem Arzt gesprochen haben und bevor behandlungstechnisch ansonsten irgendetwas passiert ist. Wenn Brimborium bei Kranken funktioniert, warum nicht auch bei Gesunden?
Zweckmäßigerweise umgibt man sich dabei auch mit einer Aura des Geheimnisvollen. Gegenstände, die man mit sich führt, besitzen plötzlich irgendwelche magischen Kräfte. Außerdem kann man solche Gegenstände auch als Amulette verteilen, was die Empfänger wiederum bindet. Wenn solche mitgeführt und teilweise mit ins Grab gegeben werden, drückt das noch nicht eine tiefe Religiosität aus: auch heute tragen viele Leute Glücksbringer, weil sie sie schön finden und sie ein gutes Gefühl vermitteln, aber nicht um sie bei jeder Gelegenheit anzubeten, und persönliche Gegenstände werden mit in den Sarg gelegt, weil es eben persönliche Gegenstände sind.
Natürlich werden auch Schamanen nicht selten am Rande ihrer Weisheit angekommen sein. An der Stelle ist es angebracht, jemand anderem die Schuld für einen Misserfolg in die Schuhe zu schieben, möglichst jemanden, den man nicht sieht und zur Rechenschaft ziehen kann. Die Geburtsstunde von Geistern und kleinen Göttern, die verschiedenen Gegenständen innewohnen und nicht unbedingt das machen, was die Menschen wollen.
Der letzte Schritt, und da sind wir bereits bei den heutigen Zuständen angelangt, ist dann die Vermittlerrolle, die nur der Schamane zwischen Geist und Mensch einnehmen kann. Der Schamane avanciert zum Priester, und das schmückende Beiwerk – Götterbildnisse, Göttergeschichten, Totenkulte – kommt mehr oder weniger von alleine. Außerdem, und das ist das raffinierte an der Gotteskonstruktion, schiebt er die Verantwortung anderen in die Schuhe. Funktioniert etwas, dann deshalb, weil der Priester den Willen Gottes verkündet hat und alle ihm gefolgt sind, funktioniert etwas nicht, dann nicht etwa wegen eines Fehlers des Schamanen, sondern weil man gegen Gottes Willen gehandelt hat.
Wir sind nun genau da angekommen, wo das traditionelle Modell mit der Vorstellung einer Naturreligiosität des Menschen auch endet. Der Weg ist aber nicht der des Fragenden, der sich in immer tiefere philosophische Abgründe verliert, sondern viel banaler: Macht. Wer hat in einer Gemeinschaft die Macht? Der weltliche Führer? Oder der geistige/geistliche?
Wenn man sich die dokumentierte Geschichte des Menschen anschaut, ist genau das Thema ein wesentlicher Handlungsstrang. Im europäisch-christlichen Umfeld ging es 1600 Jahre lang genau um diese Frage, angefangen beim römischen Kaiser Konstantin, der als Heide (er wurde erst kurz vor seinem Tod getauft) der katholischen Kirche deren Glaubensregeln diktierte, um seine eigene Macht zu festigen, über den Höhepunkt der kirchlichen Macht beim Canossa-Gang Kaiser Heinrichs IV und die Durchsetzung der weltlichen Macht gegenüber dem Papst (übrigens schon durch Heinrich IV nach Canossa) bis zum weitgehenden Zerfall der kirchlichen Macht bis heute. Interessant an der ganzen Sache ist vor allen Dingen, wie weit die breite Masse sich durch den Hokuspokus fanatisieren lässt, auch heute noch und allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz.
Rückblickend auf die nur aus Artefakten rekonstruierbare Menschheitsgeschichte stellt sich die Frage, welche der Artefakte einem Beschäftigungstrieb entstammen, welche vom schamanischen Brimborium initiiert sind, ohne gleich mit ausuferndem rituellen Zinnober belastet zu sein, und welche mit einer Unterwerfung unter eine abstrakte religiöse Hoheit verbunden sind. Weitere Gedanken dazu heben wir uns für später auf.