Wenn man sich einmal die Geschichte der Menschheit aus einer anderen Perspektive anschaut, nämlich nicht aus Sicht der heroischen Helden und Großen, sondern aus der der Opfer, handelt es sich im Großen und Ganzen um ein systematisches Ausrotten mehr oder weniger großer Teile ganzer Völkerschaften, die oft mit Bezug auf die Möglichkeiten der Epochen bezogen schon als „industriell“ bezeichnet werden können.
Das fängt bereits in der Frühgeschichte an, wenn in der Bibel im Rahmen der israelitischen Landnahme ganze Landstriche ausgemordet werden (Standardbefehl des HERRN: „Tötet alle und behaltet unbestiegene Frauen und Vieh für euch.“). Das geht in der Antike weiter, wenn etwa Karthago vollkommen vernichtet wird oder später Vandalen und Ostgoten bis auf den letzten Mann niedergemacht werden, wenn im Mittelalter die deutschen König-Kaiser sich redlich bemühen, die Slawen zu dezimieren und sie selbst dann noch als „Heiden“ verfolgen, als bereits alle gutgläubige Christen waren. Da sind die schief gegangenen frühen Vernichtungsfeldzüge gegen die Moslems, auch Kreuzzüge genannt, oder die erfolgreichen Vernichtungsfeldzüge gegen die christlichen Katharer, ebenfalls Kreuzzüge genannt. Da ist das systematische Ausmorden Mittel- und Südamerikas unter dem Vorwand der Verbreitung des Christentums, eigentlich der systematischen Ausplünderung der Völker. Und das geht weiter bis in die aktuelle Gegenwart: Massenmorden aus rassistischen oder geopolitischen Gründen, versteckt unter Deckmänteln wie Antirassismus und anderen.
Relativ selten müssen sich die Mörder rechtfertigen, noch seltener sich verantworten (eigentlich eher nie). Der Schlüssel dazu, sich nicht rechtfertigen zu müssen, liegt in der Ausnutzung der menschlichen Neigung, aus allem einen Wettstreit zu machen (neudeutsch competition, challenge, battle, je nach Thema). Wer hat wo wie viele Leute umgebracht? Aus Sicht der Opfer ist es umerheblich, ob es außer einem selbst 10.000 oder 1.000.000 andere getroffen hat, aber moralisch kan man den mit 1.000.000 Opfer zum Böseren machen. Oder wer ist bestialische vorgegangen? Der hat die Leute einfach abgestochen, der andere ihnen Augen und Zunge rausgerissen und die Nase abschneiden lassen. Das Ergebnis ist wieder das gleiche, aber wieder gibt es einen Sieger und einen Verlierer unter den Tätern.
Wie entgeht man als Täter der Kritik und bleibt auch bei Millionen von Betroffenen ein eigentlich guter? Der Trick ist ziemlich einfach: man behauptet, dass ein bestimmter Massenmord, der möglichst noch nicht allzu lange zurück liegt, so dass sich alle daran erinnern können und auch die Details noch diskutiert werden können, einzigartig, also ein Singularität, ist. Es gibt keine Steigerungsmöglichkeiten der begangenen Taten, und schon ist man automatisch auf der relativ guten Seite. Und damit es dabei bleibt, verbietet man grundsätzlich Vergleiche und Diskussionen. Wer es trotzdem macht, wird strafrechtlich verfolgt. Das Diskussionsverbot betrifft nicht nur die irgendwie festgelegten „Fakten“, sondern in der Regel auch den Weg zur Singularität: meist war die schließlich begangene industriell organisierte Massentötung, die mit Mitteln der Neuzeit logistisch natürlich anders angegangen werden kann als in der Antike, eher der Höhepunkt einer Eskalation mit vielen Beteiligten (die davon und damit ihrer Mitverantwortung natürlich auch nichts mehr wissen möchten) und stand keinesfalls von vornherein so fest, wie es später in der Agenda behauptet wird.
Ein besonders deutliches Beispiel liefert der Völkermord an den Armeniern 1915: In der Türkei ist jede öffentliche Einordnung als ‚Genozid‘ bis heute straf- oder zivilrechtlich riskant; in Frankreich, der Schweiz und mehreren US-Bundesstaaten wiederum ist seine Leugnung unter Sanktionsandrohung verboten. Dieselbe Logik – ein Massenmord wird zur nationalen Singularität erklärt, Vergleiche werden unterbunden – findet sich beim Holodomor in der Ukraine, beim Massaker von Srebrenica oder beim Genozid in Ruanda. Die Mechanik ist immer gleich: Man erhebt ein eigenes historisches Trauma zum absoluten Maßstab des Bösen, verankert ein Diskussionsverbot und verlagert damit die Debatte vom Tathergang zur Tabuisierung.
Die Auflösung erfolgt erst im Laufe der Zeit. Irgendwo, wo die strafrechtliche Sperre nicht zieht, beginnen Diskussionen, weiten sich aus und irgendwann ist das Gebäude kaum noch zu halten, besonders dann, wenn es zu neuen Massakern kommt, angesichts derer ein Vergleichs- und Diskussionsverbot immer unhaltbarer wird, weil sich Vergleiche nahezu zwangsweise aufdrängen.
Und nicht selten ist neuer Hass die direkte Folge solcher Denkverbote. Statt ihn zu beseitigen, bauen die Verbote einen inneren Druck bei Beteiligten auf, der letzten Endes in die andere Richtung losgeht.