Kapitel 5: die Fossilkette
Wenn man sich die Liste hominier Fossilien anschaut, wirkt diese auf den ersten Blick recht beeindruckend, und ordnet man das ganze chronologisch an, ist der Laie versucht zu sagen „Ach! So ist die Entwicklung gelaufen!“. Das ist allerdings so nicht korrekt.
Sieht man sich die Fundorte früher Funde, die älter als 1 Mio Jahr sind, an, so streuen diese über fast den gesamten afrikanischen Kontinent. Zudem sind die Funde in der Regel unvollständig und bestehen meist aus wenigen Knochen. Die Wissenschaft kann zwar relativ sicher sagen, ob die Fossilien auf einen gemeinsamen Ursprung zurück gehen, sie aber nicht (sicher) in einer Reihe stellen. Die Zeittafel für ältere Zusammenhänge stellt denn auch die einzelnen Gattungen parallel,
Von Martin Sauer - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6315684
und Versuche, mehr Ordnung hineinzubringen, haben Hypothesenstatus:
Man kann zwar solche Hierarchien aufgrund von Ähnlichkeiten der Fossilien und der Lage von Fundorten konstruieren, aber wie charakteristisch sind Fossilien, wenn nur ein unvollständiges Exemplar vorliegt, und wie weit sind die Typen im laufe der Jahrtausende gewandert? Eine strikte Trennung über die erforderlichen Zeiträume ist nicht sicher nachzuweisen, so dass viele der hier per Namen als unterschiedliche Arten ausgewiesenen Typen möglicherweise erst den Rassestatus erreicht hatten und untereinander immer noch fruchtbare Nachkommen zeugen konnte.
Beredtes Beispiel dieser Möglichkeit sind H. sapiens und H. neanderthalensis, die lange Zeit als verschiedene Arten angesehen wurden. Da die Entwicklung noch nicht so lange zurückliegt, waren in diesem Fall genetische Studien an Fossilien möglich, die zwar eindeutig eine Unterscheidung zwischen Neandertalern und modernen Menschen ermöglichen, aber auch so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, dass sie noch keine komplett getrennten Arten sind. In der Wissenschaft werden als Hypothesen für das Aussterben der Neandertaler
- Ausrottung durch den modernen Menschen (die These hat zunehmend weniger Anhänger),
- Aussterben aus natürlichen Ursachen, da die modernen Menschen erst nach dem Verschwinden des Neandertaler eingewandert sind, und
- sexuelle Vermischung beider Typen, womit die Neandertaler gar nicht ausgestorben wären, sondern immer noch im heutigen Menschen präsent sind.
gehandelt. Da alle Schlussfolgerungen auf Indizien beruhen, wird man sich über solche Themen wohl noch längere Zeit streiten. In diesem Zusammenhang ist es auch noch einmal wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Spuren nur unter besonders günstigen Bedingungen erhalten konnten, im Fall der Neandertaler beispielsweise vorzugsweise dann, wenn diese in Höhlen siedelten. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass bei mehrfacher Besiedlung eines Lagers zwischen den einzelnen Besiedlungsphasen statistisch Zeiträume von 1.000 und mehr Jahren gelegen haben; die genauen Abstände kennt natürlich niemand. Wo sich die Lager zu fast 99,9% des gesamten Zeitraums befanden, ist völlig unbekannt. Zumindest ist sicher, dass die Leute herumgezogen sind, und da ist schon recht unwahrscheinlich, dass der Neandertaler bei schlechter werdenden Bedingungen schlicht am Ort des schlechten Wetters auf sein Aussterben wartete, statt sich schlicht in andere Gegenden zu verkrümeln. Die Indizienlage, auf der Schlussfolgerungen gezogen werden – und das gilt für die gesamte Geschichte der vorhergehenden Homininen sowie auf für die folgenden Absätze dieses Kapitels – ist somit äußerst dünn und die Bestimmtheit, mit der die Hypothesen verbreitet werden, alles andere als angebracht. Vorausgesetzt der Wandertrieb war dermaßen ausgeprägt, wie man es vermutet – und auch hier ist zu berücksichtigen, dass wir nicht über Wochen oder Monate reden, sondern über Jahrtausende – spricht vieles dafür, dass es spätestens nach den immer wieder anstehenden Umweltveränderungen im Laufe der Eiszeit(en) auch immer wieder zu Begegnungen kam, bevor eine Artgrenze Vermischung verhinderte, und die in kleineren Scharmützeln (Männchen bewahren ihre Dominanz und lassen keine fremden Konkurrenten zu) und/oder sexuellem Austausch (Weibchen können problemlos die Gruppen wechseln, und sei es nur für einen kleinen One-Night-Stand) bestanden und so eine ständige erneute Mischung stattfand, wobei sich ein Phänotyp durchsetzte (z.B. H. sapiens) und einer langsam verschwand (H. neanderthalensis).
Ebenfalls auf genetischen Analysen (es gibt verschiedene Ansätze, die von Mitochondrien-DNA der weiblichen Linie oder dem Y-Chromosom für die männliche Linie ausgehen, hier M-DNA) beruhen Modelle über die Ausbreitung des modernen Menschen über die Erde.
Von Juschki based on: Datei des Users Maulucioni: Migraciones_humanas_en_haplogrupos_mitocondriales.PNG - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42410349
Das Ausbreitungsbild ist als Out-of-Africa-Hypothese II bekannt. Auch das Problem dieser Analysen beruht darauf, Analysematerial zu finden, das nicht durch neuere Wanderungen überdeckt ist, wird aber durch Fossilfunde, genetische Analysen von Parasiten und anderem gestützt. Ein gedankliches Problem bei dieser Analyse ist, dass sie den Ursprung des modernen Menschen letztendlich auf eine Urmutter (hypoth. Eva in der Grafik) zurückführt, von der alle abstammen, was letztlich impliziert, dass die Nachkommen von Eva alle anderen, die sie auf ihrem Weg standen, erschlagen haben. Derart deterministische Vorstellungen sollte man sich mit Rücksicht auf das zuvor Gesagte allerdings besser verkneifen.
Als Ergebnis steht jedenfalls fest, dass auf der Erde nur eine Menschenart existiert und alle Varianten politisch unkorrekt als Rassen bezeichnet werden können. Die Frage, welche Form sich hinter der Entwicklungslinie
versteckt und wer wen wann und warum ausgerottet oder erfolgreich Geschlechtsverkehr betrieben hat, wird wohl noch lange Anlass zu Diskussionen bleiben.