Zahlenspiele

Vom 1.1.18 bis zum 30.6.18 sind im Mittelmeer 1.408 Flüchtlinge ertrunken. Oder korrekt formuliert: fast beinahe ganz genau exakt ungefähr 1.408. Woher haben ausgerechnet die Feinde jeglicher sonstiger Fakten so genaue Zahlen und weshalb sind sie so genau?

Die Zahl findet man in jeder Zeitung, sie werden in jedem Nachrichtensender gebracht. Sie beziehen sich auf die Gesamtzahl von 46.407 Flüchtlinge auf der Mittelmeerroute und sollen die erhöhte Gefahr gegenüber 2016 dokumentieren, wo 5.096 Menschen ertrunken waren, allerdings bei 362.753 Flüchtlingen. Die Verlustrate ist mithin von 1,4048% auf 3,0340% gestiegen.

Die Techniker unter den Lesern haben vermutlich verstanden, worauf die Darstellung hinausläuft. Würde man im Praktikum Prozentzahlen mit dieser unsinnigen Genauigkeit darstellen, wäre der Hinauswurf vorprogrammiert. Beschäftigen wir uns genauer mit den Zahlen.

Woher stammen die Daten?

Die Quelle für alle ist das UNHCR, das UN-Flüchtlingshilfswerk. Dessen Zahlen werden zitiert. Wie kommen die Leute nun an die Zahlen. Unbestritten ist, dass gezählt werden kann, wie viele Menschen durch Schiffe in europäischen Häfen offiziell angelandet werden können. Allerdings: wenn man genauer darüber nachdenkt, was es das auch schon. Sind das die 46.407 Flüchtlinge?

Ich muss zugeben: keine Ahnung, denn so genau ist das nun auch nicht dargestellt, wie diese Zahl zusammen kommt (oder zumindest habe ich das nicht gefunden). Es könnte sich auch um die Zahl derjenigen handeln, die mit einem Boot von der Küste abgelegt haben, aber woher will man das wissen? Die Zahlen kennen nur die Schlepper – falls sie überhaupt zählen. Oder diejenigen, die von der libyschen Küstenwache zurück gebracht werden zusätzlich zu denen in europäischen Häfen (also nicht alle 46.407  hätten Europa erreicht). Aber ob die Libyer nun so genau zählen? Glaubt man den NGOs, tun sie das sicher nicht. Die Zahl könnte auch höher sein, wenn Schiffe ihre Fracht inoffiziell irgendwo an der italienischen Küste ablädt. Auch da wäre ich mit nicht sicher, ob das nicht passiert.

Und wie kommt man nun auf die 1.408? Anscheinend wird das aus Berichten von „Geretteten“ extrahiert. Man sei mit 3 oder 4 Booten gestartet, von denen bis auf das eigene unterwegs die anderen verschwunden seien, so manche Schilderungen. Geht man nun davon aus, dass alle Verschwundenen abgesoffen sind? Oder haben die ihren Kurs nur aufgefächert, um ihre Chancen zu erhöhen? Oder sind sie von den Libyern aufgefischt worden oder andere haben sie aufgefischt und vereinbarungsgemäß an die Libyer übergeben? Oder sind gar einige geschickterweise rechtzeitig doch wieder umgekehrt und haben es bis an die Küste zurück geschafft?

Also alles in allem anscheinend nichts als absolut präzise Schätzungen aufgrund irgendwelcher Mutmaßungen, wie plausible die auch immer sein mögen. Möglichweise könnte die NSA über ihre Satelliten genauere Daten liefern, aber ich bezweifle, dass die ihre Kapazitäten dafür nutzen oder die Zahlen zur Verfügung stellen, falls sie welche haben.

Was sagen diese Zahlen?

Gehen wir davon aus, dass diese Zahlen die Realität einigermaßen beschreiben, was die Meeresflüchtlinge betrifft. Die Realität selbst bilden sie nicht ab, denn sie beinhalten nicht, dass auf dem Weg nach Libyen bzw. Nordafrika einige Verluste auftreten dürften, in Nordafrika eine große Anzahl als Sklaven aller Art über eine längere Zeit festgehalten wird (und vermutlich wieder einige sterben). Es sind schlicht Zahlen für den Endkonsumenten in Europa.

Die Flüchtlingskandidaten mögen ungebildet sein, aber nicht dumm. Das Merkel-Signal „wer es bis hier hin schafft, genießt lebenslange Rundumversorgung“ zusammen mit der Verlustrate von 1,4% bzw. 3,0% ist das, was sie auch mitbekommen. Oder anders ausgedrückt: jetzt geht es mir Scheiße, aber wenn ich mich auf den Weg mache, habe ich eine 98,6%-ige bzw. 97%-ige Chance auf ein sorgenfreies Leben (zumindest relativ zu dem, das ich derzeit habe). Dass das für manche oder viele doch nicht so ist, dringt ja erst seit kurzem in die Medien, und auch das ohne Zahlen.

Die Leute sehen also die 98% und können nur gewinnen. In unserer überfütterten Gesellschaft gelten ähnliche Zahlen wie allerlei aberwitzige Tätigkeiten wie S-Bahnsurfen, Mt. Everest-Besteigungen oder andere Sachen, bei denen man vielleicht nicht immer drauf geht, aber als Krüppel oder ohne Zähne aus der Sache herauskommt, aber nicht wirklich gewinnen kann. Es geht lediglich um den Kick oder darum, nicht als Feigling da zu stehen, und trotzdem machen es viele. Flüchtlinge in Relation zu denen, die nicht flüchten, und Adrenalinjunkies im Verhältnis zu denen, die etwas gelassener durch das Leben gehen – vermutlich tut sich da recht wenig.

Kurz und gut, wenn man etwas zu gewinnen hat, sagen diese Zahlen MACH ES.

Warum solche Zahlen?

Die Zahlen sind ein Lehrbuchbeispiel für angewandte Propaganda. Die Europäer sollen natürlich nicht die 98%-ige Gewinnchance sehen, sondern die 3%-ige Todesrate, und vor Mitleid erstarren. Genau das will die Berichterstattung erreichen, und das macht sie auch. Die Verhältnisse in den afrikanischen Herkunftsländern oder in den Transitländern in Nordafrika oder auch auf der Landroute über den Balkan sind allenfalls marginale Berichterstattung wert. In der Hauptsache dreht sich die Medienwelt um den Aufhänger „tot oder nicht tot“ auf der Mittelmeerroute. Das drückt auf die Tränendrüse, nicht der Penner unter dem Pappkarton auf irgendeiner Industriebrache in Serbien. Der soll gefälligst arbeiten gehen, und vielen unserer Penner geht es ja auch nicht besser. Aber Leben und Tod, möglichst gepaart mit Frauen, Kindern und Schwangeren, das bringt die Quote.

Auch letzteres ist auffällig, wenn man genauer hinschaut. Fotos von überfüllten Booten zeigen oft Frauen, obwohl hier in der Öffentlichkeit fast nur junge Männer zu sehen sind. Nicht, dass sie nicht da werden, aber der mediale Trick „… darunter Frauen und Kinder“ (ohne genaue Zahlen) wirkt eben. Volker Pispers hat mal recht sarkastisch gesagt, er warte eigentlich nur auf die Meldung „… 25 Tote, zum Glück nur Männer!“.

Der finale Propagandatrick liegt in den Zahlen. Die Psychologie ist raffiniert, wenn ihr mal drüber nachdenkt, und enthält folgende Steigerungen:

  • „… kommen immer wieder Menschen um …“ – naja, ist halt so. Passiert ja auch beim Gardinebügeln, dass immer wieder mal einer aus dem Fenster fällt.
  • „… ca. 2% erreichen Europa nicht …“ – völlig unanschauliche Zahl, außerdem muss ich immer schon 19% MWSt. zahlen. Aber schon besser als die erste Variante.
  • „… sterben ca. 1400 Menschen …“ – oh, jetzt wird es schon persönlicher. Aber ca. 1400? Na, das ist offensichtlich ein Schätzwert. Können ja auch nur 900 sein, und dann ist das ja nicht mehr ganz so schlimm.
  • “ … sind 1.408 Menschen ertrunken …“ – das ist eine exakte Zahl, über die nicht diskutiert werden kann, denn die Angabe ist genau. Die hätten wir auch retten können, und dann wären es insgesamt wirklich 46.407 und nicht nur 44.999 Gerettete, und das würde den Braten ja nun auch nicht mehr fett machen. Und von wegen Millionen von Flüchtlingen! Es sind ja nur noch 46.407 unterwegs gewesen.

Man kann die Wirkung noch durch ein Interview mit einer Geretteten steigern  (Frau ist wieder wichtig):  „Wir treffen uns mit der 28-jährigen Balima Bulba aus dem Dorf N’goto in Nigeria, das 453 km von der Hauptstadt entfernt ist. Von hier hat sich die schlanke, ca. 1,73 große junge Frau auf den Weg gemacht. Bei unserem Treffen hat Balima einen gelben Pullover und eine enge verwaschene Jeans an und hat gerade ihr Frühstück beendet, dass aus Kaffee und einigen Waffeln bestand. Balima führt uns an einem Raum vorbei, in dem eine Gruppe Kinder Lieder aus der alten Heimat singt …“ – danach ist es völlig egal, was die junge Frau noch sagt, denn die Nähe zum Empfänger ist hergestellt und er identifiziert sich mit ihr wie mit seiner eigenen Tochter, und wehe, im folgenden Interview kommt irgendetwas vor, was man als Vergehen an der eigenen Tochter empfindet!