Das angelsächsische Rechtssystem, besonders das US-amerikanische, unterscheidet sich stark vom Deutschen. US-Gerichtsverfahren sind nicht selten Shows und es gewinnt nicht unbedingt der, der die besseren Beweise oder Argumente hat, sondern der bessere Showmaster. Dafür sorgen schon Verfahrensumstände in Geschworenenprozessen, in denen sich Menschen, die das gar nicht gewohnt sind, mit so vielen Fakten auseinander setzen müssen, dass sie zwangsweise oft die Übersicht verlieren.
Vom Showgesichtspunkt ging die Welt wohl auch bei den Nürnberger Prozessen aus, in denen mit den Top-Nazis abgerechnet werden sollte. In privaten Gesprächen und Briefen gaben der US-Chefankläger Robert H. Jackson und der britische Chefankläger Sir David Maxwell-Fife zu, sich gründlich verrechnet zu haben. Der einfach gedachte Prozess zog sich in die Länge und nur wenige der Angeklagten wurden schließlich zum Tode verurteilt.
Der Grund waren die deutschen Juristen, die mit der Verteidigung beauftragt waren. Die Vermutung, dass diese showmäßig unterlegen wären, war zwar korrekt, aber diese NS-Juristen zeigten eine unangenehme Seite, die der deutschen Justiz trotz der seit 1933 vergangenen 1000 Jahre immer noch eigen war: sie wollten im Prozess die Wahrheit ermitteln. Die Wahrheit! Das könnte in die Hose gehen.
Flugs wurden die Prozessregeln geändert und die Verteidiger durften verschiedene Sachen nicht zur Sprache bringen oder bestimmte Zeugen aufrufen, etwas, was man auch aus US-Gerichtsfilmen kennt, wo die Richter auch sehr freizügig das Eine oder Andere ausschließen, bis der Mörder wieder freikommt. Jackson und Maxwell-Fife war oft nicht wohl bei der Sache, aber die Befehle kamen von oben. Und es ging trotzdem schief: als der sowjetische Chefankläger Nikitchenko gerade mal zum Rapport beim Chef in Moskau war, versäumte sein Stellvertreter, rechtzeitig einzuschreiten und das unselige Wort „Katyn“ erblickte das Licht des Gerichtsprozesses. Das wurde zwar schnell abgewürgt, aber der unglückliche Stellvertreter erhielt ein paar Tage später ein Ehrengrab auf einem nicht näher identifizierten Acker in der Nähe von Leipzig.
Eigentlich ist es doch ganz positiv zu sehen, wenn die deutsche Justiz nach der Wahrheit sucht und dem Angeklagten, je nachdem, wie die Suche nun ausgeht, einige Zeit keimfreie Luft hinter FFP29387172847893723-Gittern (das dürft wohl ungefähr hinkommen; virendicht sind die Gitter ja trotzdem) verschafft oder ihn frei spricht. Eigentlich, denn mit der Wahrheitssuche ist es zumindest bei der StA Göttingen wohl nicht mehr weit her. So titelt sie in einer Berufungsbegründung:
Ziel der Berufung ist die Verurteilung des Angeklagten zu einer Geldstrafe.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten zu Unrecht aus rechtlichen Gründen freigesprochen.
Besonders am zweiten Satz hätten Nikitchenko und Stalin, die übrigens bei jedem in Nürnberg Angeklagten für die Todesstrafe gestimmt haben, wohl ihre helle Freude gehabt. Danke, liebe Genossin Angela!