Verfassungsgericht: die polnische „Unrechtsstaatlichkeit“

Der polnische Staat wird derzeit medial unisono als Unrechtsstaat dargestellt, wobei man sich einmal die Vorgänge anschauen sollte, bevor man in diesem Chor mitsingt.

Eine Sache können wir schnell abhaken: Macher von öffentlich-rechtlichen Medien werden vom Staat eingestellt und entlassen. Das ist aber nicht anders als hier auch, und ich habe ja schon in einigen Beiträgen festgestellt, dass insbesondere die mächtigen ÖR-Journalisten nur die Noten Pfeifen, die von Parteizentralen ausgegeben werden. Das journalistische Gekeife über die Behinderung des Journalismus in Polen ist in zwischen auch recht kleinlaut verstummt.

Die andere Sache betrifft die Geschäftsordnung des Verfassungsgerichts. Auch hier zunächst wieder Augenwischerei: die Richter werden vom Parlament gewählt, und das ist genau das, war hier auch geschieht. Entweder haben die Kritiker, die das bekritteln, die deutschen Regelungen nicht mitbekommen, oder sie hoffen, dass die Bürger nicht lesen können.

Die anderen Regelungen:

  1. Die Entscheidungen müssen mit 2/3-Mehrheit erfolgen,
  2. die Fälle müssen in der Reihenfolge des Eingangs bearbeitet werden.

Und das ist natürlich absolut rechtsstaatswidrig !

Aber wieso eigentlich ?

Wer es nicht versteht, ist in guter Gesellschaft. Demokratie bedeutet zwar, dass in einer Versammlung von 500 Leuten, die von kaum 50% der wahlberechtigten Bevölkerung gewählt wurde (die Wahlbeteiligung ist höher, aber Enthaltungen und wegfallende Stimmen für Splitterparteien darf man ruhig abziehen), eine einzelne Stimme den Ausschlag für beliebig viele Tote geben kann, wenn es um Krieg geht. Aber das ist Politik.

Aber hier geht es um Recht. Die Politik fordert, dass politische Regeln auch im Recht gelten, zumindest im wichtigsten Recht, dem Verfassungsrecht. Das kontrolliert nämlich die Politik in einem gewissen Umfang. Ein Gericht, dass mehr nach rechtlichen Gesichtspunkten operiert, ist daher in Politikeraugen nicht rechtsstaatlich.

Man kann das natürlich auch anders sehen. Eigentlich sollten Gesetze ja so eindeutig sein, dass Richter auch eindeutig richten können. Sind sie aber bekanntlich nicht, weshalb eine Gerichtshierarchie besteht. Eigentlich sollte es aber so sein, dass man sich zumindest auf einer Ebene einigermaßen einig ist. Ist man in der Regel auch, und übergeordnete Gerichte beurteilen meist nicht den Fall, sondern das Vorgehen der unteren Instanz, die bei Fehlern den Fall neu aufrollen muss (bei reinen Rechtsfragen, also der Auslegung von Gesetzen, ist das anders). Und da kann man sich schon fragen, wieso Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit rechtswidrig sein sollen, wenn eine qualifizierte Mehrheit und nicht eine einzige Stimme verlangt wird. Die Verfassung darf ja vom Parlament auch geändert werden (was den Begriff „verfassungsfeindlich“ etwas schwammig macht), aber ebenfalls nur mit 2/3-Mehrheit. Meinem Rechtsempfinden entspricht die polnische Regelung eher einem rechtsstaatlichen Vorgehen, zumal da bei der Wahl der Richter durch das Parlament durchaus auch die Möglichkeit besteht, bei einer Nachwahl schnell mal einen Richter zu wählen, der einem die Mehrheit für eine strittige Entscheidung verschafft.

Die zweite Regelung betrifft die Abarbeitung der Fälle, und eine Abarbeitung in der Reihenfolge des Auftretens ist ebenfalls rechtswidrig. Aha! Mal salopp formuliert: das Parlament beschließt ein Gesetz, dass den Bürgern rückwirkend ab 2002 höhere Kfz-Steuern auferlegt. Eindeutig rechtswidrig, aber der Bundespräsident, den man aufgrund des Wahlverfahrens und diverser anderer Vorgänge durchaus als Marionette der Regierung ansehen darf, unterschreibt ja ohnehin alles. Also geht der Bürger vor das Verfassungsgericht. Und das bearbeitet zunächst das NPD-Verbot, die EU-Gülleverordnung, das Abspreizen des kleinen Fingers beim Heben des Bierglases und andere wichtige Sachen und lässt politisch unbequeme Angelegenheiten beliebig lange in der Schublade. Überzogen, gewiss, aber wo ist die Unrechtsstaatlichkeit, wenn Fälle in der Reihenfolge bearbeitet werden, in der sie eintreffen ? Unbequem, in machen Fällen vielleicht auch wenig pragmatisch, aber aus Sicht dessen, der klagt, eindeutig eine höhere Rechtssicherheit. Sein Fall muss bearbeitet werden und wird nicht nach hinten geschoben, weil ein anderer eine dickere Brieftasche hat.

Zusammengefasst: im Gegensatz zu der Auffassung politisch bezahlter so genannter Rechtsexperten sind die polnischen Regeln deutlich mehr im Sinn des Bürgers, und da sie so nicht mehr im Sinn des Politikers sind, sind sie nicht rechtsstaatlich.